Motivation und Selbstverantwortung durch Partizipation in Entscheidungsprozessen
Viele Unternehmen erkennen, dass ihre Führungs- und Entscheidungsprozesse reif für Veränderung sind. MitarbeiterInnen sind auf Sinnsuche. Motivation und Identifikation mit dem Unternehmenszweck kann durch eine breite Beteiligung entstehen.
Das traditionelle Führungsverständnis
Viele Organisationen orientieren sich in ihrem Entscheidungsverhalten an den verschiedenen Ausprägungen des Modells von Tannenbaum/ Schmidt, siehe Grafik.
Meist wird dabei der partizipative oder delegative Ansatz für nachgeordnete Entscheidungen verwendet, wie zum Beispiel das nächste Teamevent oder die Auswahl eines Geburtstagsgeschenks für eine MitarbeiterIn. Aber auch bei wesentlichen Entscheidungen über die Zukunft ihres Unternehmens wollen viele Betroffene nicht mehr nur Zuschauer sein. Motivation und Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung wird immer häufiger gekoppelt an die Möglichkeit, aktiv mitzugestalten. Weiter erscheint es sinnvoll, mit Blick auf die dynamischen Veränderungen der Märkte jedwedes im Unternehmen verfügbare Wissen für die notwendige Weiterentwicklung zu nutzen.
Das Konsent-Verfahren
Für Organisationen, die einen breiteren partizipativen Entscheidungsansatz wählen wollen, kommt das strukturierte Konsent-Verfahren infrage, das aus dem systemtheoretischen Ansatz der Soziokratie stammt. Bei diesem Vorgehen hat ein Moderator einer Gruppe die Aufgabe, nach einer Erläuterung der relevanten Fragestellung in mehreren meinungsbildenden Runden einen Vorschlag zu erarbeiten, zu dem niemand mehr aus der Gruppe einen schwerwiegenden und begründeten Einwand im Sinne der gemeinsamen Zielsetzung hat.
Jede teilnehmende Person wird nacheinander in der Runde abgefragt. Dieses Vorgehen stellt sicher, dass eine einmal getroffene Entscheidung hohe Akzeptanz besitzt und von allen Mitwirkenden mitgetragen werden kann. Zwar müssen sich nicht alle einig sein, aber zumindest ihr Einverständnis zur skizzierten Lösung gegeben haben.
Führungskontinuum nach Tannenbaum/Schmidt
Einwand-Behandlung
Ein Lösungsvorschlag kann durch den Einwand einer TeilnehmerIn abgelehnt werden, der in der Theorie der Soziokratie und der Holokratie als Veto gilt.
Dabei ist wichtig, dass die Person, die das Veto formuliert, nicht als Verweigerer oder Nörgler erlebt wird, sondern die Gruppe erkennen kann, dass es noch eine unbearbeitete oder unbefriedigend gelöste Facette der Fragestellung gibt.
Im nächsten Schritt ist die Berechtigung des Einwandes zu überprüfen. Die Kernfrage an die TeilnehmerInnen lautet: Ist der Lösungsansatz sicher genug, um ihn auszuprobieren?
Die Fragestellung fokussiert damit allein auf die Sicherheit bzw. das Risiko des Lösungsansatzes und ermöglicht damit kleinschrittige Entwicklungen. Es soll verhindert werden, dass viele kleine, sinnvolle Lösungsansätze immer wieder an grundsätzlichen Überlegungen scheitern.
Einwand-Behandlung im Entscheidungsprozess
Mit einem strukturierten Behandeln eines Einwandes wird deutlich, ob der Einwand berechtigt ist, und wenn ja, worin die Spannung eines möglichen Lösungsansatzes besteht. Ob die Verwirklichung des Lösungsansatzes die Organisation behindert, ein existenzgefährdendes Risiko eingegangen werden muss oder die Integrität einer Rolle, eines Kreises oder der Organisation gefährdet wird. Weiter wird im Anschluss erarbeitet, welche neuen Varianten einer Lösung im Raum vorhanden sind. Bei dem Ansatz der Holokratie ist für einen berechtigten Einwand zu unterscheiden, ob er in einem operativen Meeting weiterbehandelt werden kann oder in eine nächsthöhere Struktur, das Governance Meeting übergeben wird.
Ist deutlich, dass es sich um eine Fragestellung handelt, die nicht an ein nächsthöheres Organ übergeben werden soll, lautet die Frage: Welche Schritte sind jetzt notwendig und wer hat die Autorität, die notwendigen Schritte zu initiieren? Die angesprochene Funktion ist dann gefordert, für die offene Fragestellung Abhilfe zu schaffen und eine kurzfristige Entscheidung zu treffen.
In diesem strikten und konsequenten Vorgehen steckt einerseits die Chance auf kurzfristige innovative Lösungen und andererseits das Risiko von Polarisierungen und der Generierung von Konfliktsituationen. Unserer Einschätzung nach sollten Veränderungsansätze, welche Veränderungen von Prozessen induzieren oder Innovationen generieren, nur unter Berücksichtigung der psychosozialen Dynamik unter den Betroffenen realisiert werden. Manchmal ist ein Schritt langsamer der schnellere Weg zum Ziel.
Persönliche Macht und innere Führung
Das beschriebene Entscheidungsprozedere ist in einer Gruppe umso leichter zu realisieren, je kleiner sie ist und je ausgeprägter die sozialen Fähigkeiten sind. Bei einer Gruppengröße von fünf bis sieben Personen haben wir gute Erfahrungen sammeln können. Schwieriger wird es, wenn bis zu zwölf Personen in der Runde sitzen. Bei einer größeren Gruppe bieten sich andere methodische Vorgehensweisen an, z. B. mit einer Entscheidungsverantwortung in einem Innenkreis von drei bis fünf Personen. Dafür kann eine Delegation von wenigen fachlich und moralisch anerkannten Persönlichkeiten bestimmt werden, die die relevante Fragestellung transparent für alle bearbeitet und nach einer weiteren Feedbackmöglichkeit des Außenkreises verantwortlich entscheidet.
Empathie- und Konfrontationsvermögen sind im gemeinsamen Ringen um eine tragfähige, zukunftsorientierte Lösung unabdingbar. Solange sich einzelne Personen mit einem machtorientierten Ansatz persönliche Vorteile verschaffen wollen, wird der selbstverantwortete Ansatz pervertiert und blockiert. Wiederkehrende Maßnahmen der Teamentwicklung, regelmäßige Feedbackschleifen und kontinuierliche Evaluation der vollzogenen Schritte verankern das notwendige Lernen und unterstützen den Reifungsprozess einer Gruppe.
Literatur
Robertson, B.J. (2016): Holocracy, München.
Oesterreich, B. & Schröder, C. (2017): Das kollegial geführt Unternehmen, München.
Gloger, B. & Rösner, D. (2014): Selbstorganisation braucht Führung, München.