Entwicklung als Lebensmotto
Friedrich Glasl hat in den letzten 55 Jahren in Dutzenden von Publikationen und Hunderten Beratungsprojekten grundlegende Modelle, Konzepte und Methoden für die Gebiete der Organisationsentwicklung und der Mediation entwickelt. In diesem Interview mit Oliver Martin blickt er zurück und voraus und erzählt von seinen Quellen und seinen Impulsen.
Du hast Dich nun seit mehr als 60 Jahren intensiv mit sozialen Systemen, Konflikten und Entwicklung beschäftigt – was war und ist Dein Motiv, Dich in unterschiedlichen Anwendungsgebieten so intensiv mit diesen Themen auseinanderzusetzen?
FG: Es ist das Thema Entwicklung – Entwicklung und Fehlentwicklung oder stagnierende Entwicklung, die dann unter anderem zu Konflikten führt. Zur Auseinandersetzung mit Entwicklung habe ich über das Konfliktthema gefunden. Bei Johann Galtung, dem bekannten Friedensforscher, fand ich es interessant, dass er sagte: Wenn wir Frieden nicht im negativen Sinne definieren als Abwesenheit von Krieg, sondern im positiven, dann heißt das, dass wir eine friedensförderliche Gesellschaft schaffen müssen; und das bedeutet Entwicklung. Und dann ist der Friede eine Folge. Als ich 1967 ins NPI (das Niederländische Institut für Organisationsentwicklung) einsteigen konnte, stand dort Entwicklung – Organisationsentwicklung, Teamentwicklung, Persönlichkeitsentwicklung – durch den Gründer, den Arzt und Psychiater Lievegoed, im Mittelpunkt. Ich kam dann mit dem Konfliktthema dazu und da wurde der Zusammenhang deutlich, dass Konflikte fehlgeleitete Entwicklungen sind. So stellte sich die Frage: Wie kriege ich die Entwicklung wieder flott? Daher auch das „Systemisch-Evolutionäre“ unseres Ansatzes.
Wenn Du auf Deine Biographie blickst – welches sind Deine inspirierenden Quellen, die es Dir immer wieder ermöglichen und die Dir Energie gegeben haben, diese Konzepte, Modelle und Instrumente zu entwickeln?
FG: Mein Interesse an gesellschaftlichen Fragen, an der Friedensthematik, an Politik, hängt für mich damit zusammen, dass ich 1941 in Wien geboren bin, als der 2. Weltkrieg im Gang war. Ich habe wirklich lebhafte Erinnerungen an die letzten Kriegsmonate. Ich habe daraus keine Traumata davongetragen, jedoch die Frage: Wie ist so etwas möglich? Es entstand in mir ein Impuls: Da muss etwas getan werden! Als ich 14 Jahre alt war, habe ich 1955 Österreichs Verhandlungen mit den Alliierten intensiv verfolgt und hatte ein enormes Bedürfnis zu verstehen, wie das politische System des Nationalsozialismus funktioniert hatte, wie es dazu kommen konnte. Und dabei gab es auch eine persönliche Komponente. Mein Vater ist vor Kriegs-ende an Kriegsleiden gestorben, und 10 Jahre später hatte meine Mutter einen Lebenspartner gefunden, von dem sich herausstellte, dass er einer der ersten – noch illegalen – Nazis in Österreich war, und der auch nach dem Krieg ein unverbesserlicher Nazi blieb. Er wohnte dann bei uns, und mit ihm habe ich täglich beim Abendessen die heftigsten Dispute geführt. Ich habe ihn sehr verachtet und sogar gehasst! Aber – im Nachhinein betrachtet – verdanke ich ihm mein starkes, existentielles Interesse, verstehen zu wollen, wie das alles passieren konnte. Ich engagierte mich in der Friedensbewegung, habe den Wehrdienst verweigert und Politikwissenschaft und Psychologie studiert. Es war mir immer wichtig, nicht nur eine be-stimmte Haltung zu entwickeln, sondern auch eine entsprechende Technik. Haltung ohne Technik bewirkt nichts, aber Technik, Methodik ohne Haltung auch nichts. Mir wurde klar, dass es immer um die Person und das System, d.h. das System in der Person und die Person im System als Wechsel-wirkungsprozess geht. Dies wurde dann eigentlich die Formel für Organisationsentwicklung und Konfliktmanagement – im Kleinen wie im Großen. Auch in der Friedensarbeit, wo ich schon in den 70ern mich u. a. in Südafrika für die Überwindung des Apartheidregimes engagiert habe, wie auch heute noch, wenn ich im Auftrag der OSZE in der Ukraine und anderswo unterwegs bin.
Was ich an Deiner Arbeit sehr besonders finde: Du hast einerseits grundlegende Modelle entwickelt, während Du diese andererseits bis ins Detail über Methoden und Instrumente anwendbar gemacht hast. Ist das gemeint mit der Verbindung von Haltung und Technik, die Du vorhin erwähnt hattest?
FG: Die Anthroposophie, eine wichtige Quelle für mich, besagt: Es braucht moralische Intuition – oft nicht leicht artikulierbar, eine Idee, ein Impuls –, dann braucht es moralische Phantasie – aha, man könnte es so oder so oder so machen –, und es braucht eine moralische Technik. Nur alle drei zusammen bewirken wirklich etwas. Dabei ist mir die Phantasie ein besonderes Anliegen, die konkret durch Künstlerisches gefördert und trainiert wird. Dieses Künstlerische gehört schon sehr zu meinem ganz eigenen Ansatz der Arbeit.
Du hast ja viele sogenannte „sozialkünstlerische“ Methoden entwickelt, die in der Praxis sehr wirksam sind und auch vieles vorweggenommen haben, was in der systemischen Beratungsarbeit erst später aufgekommen ist. Wie bist Du dazu gekommen?
FG: Das Künstlerische hat mich schon vor meiner Arbeit am NPI beschäftigt. So war ich an einem avantgardistischen Theater in Wien als Regieassistent tätig, habe Hörspiele geschrieben, von denen zwei auch prämiert wurden. Auch habe ich die Kunst des Marionettenspiels als Liebhaberei entdeckt mit meiner Frau Hannelie. Ich dachte anfangs, dass das Fachliche und das Künstlerische zwei Welten wären. Am NPI war es aber so, dass durch die anthroposophische Orientierung das Künstlerische auch als persönlichkeitsbildend – Kopf, Herz, Hand – sehr wichtig war und immer schon Künstlerinnen und Künstler in Trainings und Beratungsprozesse einbezogen wurden. In dieser Kooperation entwickelten wir dann interaktive Malmethoden und konnten sehen, welche starke Wirkung diese Art der Arbeit hatte. Mit der Zeit kamen dann viele weitere auch metaphorische und szenische Methoden dazu.
Glaubst Du, dass eine Menschen gemäßere, positive Entwicklung gefördert würde, wenn Führungskräfte in Unternehmen und Politik sich stärker mit sozialkünstlerischen Vorgehensweisen auseinandersetzen würden, weil sie dadurch andere Zugänge hätten als rein kognitive?
FG: Ja, ich glaube es, und ich weiß es auch aus der Erfahrung. Als Beispiel: Ich habe über 10 Jahre OE-Arbeit mit einem großen Konzern gemacht – mit dem Top-Management eines Bereichs und dies weltweit. Mit den Führungspersonen habe ich sehr oft, bevor wir überhaupt kognitiv gearbeitet haben, ihre Themen sozialkünstlerisch aufbereitet. Ich habe mit ihnen u.a. Übungen gemacht, wodurch die in ihnen vorhandene Ressource des bildhaften Denkens geweckt und gefördert wurde, und diese bspw. mit Führungskommunikation verknüpft. So haben wir nüchterne Szenarien-Arbeit verbunden mit metaphorischen und szenischen Methoden, die eine deutlich stärker erlebbare und auch für die Umsetzung wirksamere Kraft entwickelt haben. Gerade wenn es gelingt, sich nicht einfach Metaphern auszudenken, sondern durch das Sich hineinversetzen und Erleben an diese Bilder zu kommen, werden diese eben auch fühl- und erfahrbar und können so nebst dem Denken auch das Fühlen und das Wollen ansprechen. So erleben sich Führungspersonen und Mitarbeitende als ganzheitliche Wesen und nicht reduziert auf „Kopf spricht mit Kopf“.
Wie können denn in Unterneh–en oder auch in politischen Systemen Willensimpulse für Zukünfte entstehen, die für möglichst viele Menschen hilfreich und positiv sind?
FG: In aktuellen Befragungen findet oft die große Mehrheit der Befragten, dass das derzeitige Wirtschaftssystem nicht in Ordnung ist wegen der großen Gegensätze zwischen Reich und Arm und weiteren Problemen. Doch wenn es darum geht, die eigene Lebensführung in Frage zu stellen, dann hapert es. Intuitiv schlummert aber in den Menschen eine Vorstellung davon, was besser und was schlechter ist. Die Frage ist nur, ob dieses (Ge-)Wissen kaputt gemacht wird durch die Wirkungen von Manipulation. Und wenn ich die vielen mutigen Menschen betrachte, die in verschiedenen Regionen der Welt trotz Repression ihrer Sehnsucht nach Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit mit Protesten Ausdruck verleihen – dann zeigt sich: Dieses Wissen wäre da. Deshalb stellt sich die Frage, wie dieses Spüren für das Richtige, das in der Mehrheit der Menschen vorhanden ist, artikuliert und auch in Handlung umgesetzt werden kann. Welche Professionalität braucht es dafür? Wiederum: Haltung, Gesinnung allein ist es nicht, Technik, Methodik allein auch nicht. Es braucht eben die Intuition, die Phantasie und die Technik.
Bernard Lievegoed und Du haben ja definiert, dass Entwicklung eine Richtung hat. Könnte man sagen, dass diese Richtung als ein Gespür für das Richtigere mit diesem Entwicklungsgedanken zu tun hat, der vor der Fehlentwicklung schützt? Wenn es also gelänge, Systeme so zu gestalten, dass sie die Menschen darin unterstützen, die in ihnen vorhandene Intuition in Handlungen umzusetzen, das Richtigere zu tun?
FG: Ja, weil die Bereitschaft dazu da ist, und dies durch die entsprechend gestalteten Systeme bestätigt wird. Entwicklung heißt eigentlich, die im Menschen vorhandenen Richtungskräfte zu fördern, so dass für alle gemeinsam eine gute Entwicklung stattfinden kann – auf Mikro-, Meso- und Makro-Ebene.