Trigon Themen 02|2022

Transformation als Führungsaufgabe

Navigation durch das "New Normal" fragiler Umweltbedingungen

Die neue Konstante heißt Krise. Unvorhersehbare, unbekannte Situationen, die Neuorientierung erfordern, sind zur Normalität geworden. Über Nacht stehen neue (sowie seit Jahren vorhergesagte) Grenzen von Geschäftsmodellen als neue Realitäten vor der Tür.

 

Für Organisationen jedweder Art heißt es nun, sich für eine Zukunft aufzustellen, in der es nicht mehr reichen wird, wenn das obere Management Entwicklungen vorausdenkt und entscheidet. Elementare Führungsaufgabe wird sein, einen im ganzen Unternehmen gültigen Kompass, der Orientierung, Wendigkeit und Weiterentwicklung auf jeder Ebene ermöglicht, zu entwickeln:

  • einen Kompass, in dem neben dem Gewinn Werte wie Nachhaltigkeit, Sinnhaftigkeit, Gesundheit eine zentrale Rolle spielen
  • in gutem Kontakt mit der Außenwelt (Kunde, Ökosystem, …), die als Partnerin gehört, gesucht und respektiert wird
  • für alle Mitarbeiter, damit im Einkauf, in der Fertigung, in der Produktentwicklung etc.., vor Ort sinnvoll und wach mit sich ändernden Bedingungen umgegangen werden kann – autorisiert und befähigt.

Geteilte Führung schafft mehr

Das hat tiefgreifende Folgen für das Verständnis von Führung – insbesondere in Organisationen, die hierarchisch auf eine Person zentriert (Pionierphase) oder hierarchisch durchgegliedert (Differenzierungsphase) aufgestellt sind. Aufgabe und Privileg zugleich ist dort das Beurteilen und das Entscheiden. Doch diese Kernelemente von Führung werden heute bis in kleine Unternehmensgliederungen hinein direkt bei Mitarbeiterinnen nötig, um der wachsenden Komplexität und Vielzahl ineinander verflochtener Aktivitäten gerecht werden zu können. Je mehr „Custommade“- Prozesse ermöglicht werden sollen, je mehr auf Krankheitswellen, Lieferschwankungen oder andere Engpässe reagiert werden muss, umso schwieriger wird die Gesamtsteuerung der vielzähligen Anforderungen, der wachsenden Komplexität und Abhängigkeiten.

Vom Aufgaben-Denken zum Prozess-, Ziel- und Beziehungs-Denken

In der Entwicklung von Organisationen heißt dies, reif zu werden für die nächste, die Integrations-Phase: Das Unternehmen entwickelt sich nicht mehr nur aus der eigenen Logik heraus: Es nimmt Kunden und weitere Umwelten/Stakeholder nicht nur als Absatzmärkte in den Blick, sondern es bezieht die Kundin mit ein in Gestaltung, Bewertung, Qualitätskontrolle, Weiterentwicklung, u.a. Damit diese bewusste Kontaktgestaltung und Sinnsetzung umsetzbar werden, braucht es einen Vorzeichen-Wechsel für das Handeln bei den Mitarbeitenden auf allen Ebenen und in allen Prozessschritten der Organisation: vom Denken und Handeln in Auftrag/Aufgabe hin
zum Denken in Prozessen, in Zielen und in Beziehungen. Statt zu fragen „Ist die Reklamation berechtigt?“ geht es um: „Was genau vermisst der Kunde? Was heißt das für unsere Produktentwicklung, den Service, …? Gehört das zum Nutzen, den wir erbringen wollen?“

“People don’t resist change. They resist being changed.” Peter Senge

Heute müssen weit mehr Beteiligte den Sinn und die Auswirkungen ihres Beitrags in der gesamten Prozesskette erfassen, um situationsadäquat im Sinne des Ganzen zu handeln. Für Führung heißt das in vielen Fällen, die Beurteilung von auftretenden Problemen direkt und vertrauensvoll Mitarbeiterinnen überantworten zu können. Führung investiert daher in die Befähigung und Entwicklung ihrer Mitarbeiter, so dass diese

  • über den Tellerrand hinausschauen, d.h. kooperieren, koordinieren, kommunizieren, mit Konflikten umgehen können
  • autorisiert werden, auf der Basis ihrer eigenen Einschätzungen Entscheidungen in ihrem Bereich zu fällen.

 

Führung entlang Phasen der Organisations-Entwicklung nach F. Glasl: Dynamische Unternehmensentwicklung 2021

Purpose als Handlauf für Jeden

Mitarbeitende, die verantwortlich Entscheidungen übernehmen sollen, brauchen statt der Führungskraft einen jederzeit verfügbaren Maßstab, an dem sie sich orientieren können. „Purpose“ ist hier nicht nur ein Schlagwort oder eine Mode, sondern im besten Sinne ein Handlauf für alle Beschäftigten, der zentral für Kohäsion im ganzen Unternehmen sorgt.
Nur wenn die ganze Organisation – inklusive aller Führungsverantwortlichen – sich auf eine solche Sinnsetzung hin ausrichtet, können Führungskräfte Teile ihrer bisherigen Aufgabe
vertrauensvoll abgeben. Anregungen hierzu geben Modelle wie Purpose-Driven-Organizations ¹ und die Systemisch-Evolutionäre Unternehmensentwicklung² von Bernhard Lievegoed/Friedrich Glasl.

Stimmigkeit von Weg und Ziel: Entwicklung – Sinn – Partizipation

Die Rolle von Führung in dieser Transformation ist es, Bedingungen zu schaffen, in denen Menschen und Gruppen selbstständig und intelligent im Sinne des großen Ganzen handeln können. So wird das Entwickeln der Organisation und der Mitarbeiter zu einer permanenten Aufgabe in der Organisation.

Eine solche Transformation ist zugleich Voraussetzung für die künftige Transformationsfähigkeit der Organisation. Sie braucht Führungskräfte, die klar und beispielhaft vorleben,  worum es geht, sich selbst und ihre Mitarbeitenden weiterentwickeln und zu Führung ermächtigen. Sie ist nur steuerbar, wenn es eine deutlich darauf ausgerichtete firmeneigene Führungs-Philosophie gibt und ein kooperativ entwickeltes Leitbild, das im Alltag tatsächlich gelebt wird. Lebendig wird dieses Potential der Integrationsphase nur, wenn es auf Basis von Awareness entfaltet wird, in welcher die Unternehmensleitung sich selbst und die Führungskräfte zur Transformation des eigenen Führungsverhaltens herausfordert. So durchdringt die Organisation, was C.O. Scharmer Awareness Based Collective Action nennt.

 

¹ s. Fink, F./Moeller, M.(2018): Purpose Driven Organizations, Stuttgart
² s. Glasl, Friedrich (2021): Dynamische Unternehmensentwicklung, 6.Auflage, Bern