Trigon Themen 2|2016

Selbststeuerung in Organisationen

Freiheit und Verantwortung - die mentale Seite der Selbststeuerung

Die Selbststeuerung ist oft mit einem neuen Gefühl von Freiheit bei Entscheidungen oder in der Prozessgestaltung verbunden. Für die erfolgreiche Umsetzung sind die mentalen Modelle aller Beteiligten ein entscheidender Faktor.

In einem Interview mit Tele Haase wurde uns berichtet, dass das Unternehmen im Zuge seines einjährigen Transformationsprozesses zu einer selbststeuernden Organisation ca. 30 – 40 % Mitarbeiterfluktuation zu bewältigen hatte. Respekt gebührt hier allen Beteiligten: den Entscheidungsträgern, die von ihrer Unternehmensausrichtung so überzeugt waren, dass sie ihrem Weg treu geblieben sind und den Mitarbeitenden, die bereit waren, sich neu zu orientieren – entweder innerhalb des Unternehmens oder in einem anderen Kontext. Um den Weg in Richtung Selbststeuerung erfolgreich gehen zu können, sind neben vielen bekannten Faktoren auch die mentalen Modelle aller Beteiligten von Bedeutung.

Abb. 1 Mentales Dreieck der Selbststeuerung, Hager 2016

 

Eine Unternehmensführung mit Klarheit und Willenskraft

In vielen Unternehmen, die sich bei ihrer Gründung oder in späteren Jahren zur Selbststeuerung entschlossen haben, ging die Initiative vom Gründer, Eigentümer oder einem Geschäftsführer aus, der das Einverständnis des Aufsichtsrats hinter sich wusste (z. B.: Buurtzorg, Tele Haase, Semco, FAVI). Den ersten Pol im Mentalen Dreieck bildet daher die Unternehmensspitze. Überzeugte und überzeugende Persönlichkeiten sind die Treiber, die mit Klarheit und starkem Willen dem Unternehmen eine neue Art von Gestaltungsfreiheit ermöglichen. Es klingt paradox, aber die Selbststeuerung mit ihren demokratischen Ansätzen wird top down initiiert. Der Impuls zur Veränderung besteht nicht primär darin, mehr Erfolg haben zu wollen. Treibend sind folgende Überzeugungen:

  • die Qualität der Entscheidungen ist höher, wenn sie von jenen getroffen wird, die zugleich die Umsetzung verantworten
  • die fortschreitende Komplexität der Unternehmenswelt kann nur durch Vielfalt im Denken, Nutzen von Emotion und Intuition sowie durch Erprobung im Handeln bewältigt werden

 

Die besondere Herausforderung für das Top Management liegt darin, die eigene Entscheidungsmacht bewusst loszulassen und in die Hände von Mitarbeiter- Gremien zu legen. Mut, Klarheit, unerschütterliches Vertrauen, Willenskraft und Konsequenz sind handlungsleitend und nicht die Sorge um Kontrollverlust, auf der viele unserer internen Prozesse basieren. Die (rechtliche) Letztverantwortung bleibt, wie bei einem herkömmlichen Unternehmen, beim Geschäftsführer. Dieses Vertrauen der Unternehmensspitze in die verantwortlichen Gremien ist ein Prozess, der erst gelernt werden muss.

MitarbeiterInnen zwischen Freiheit, Verantwortung und Kompetenz

Den zweiten Pol im Mentalen Dreieck bilden die MitarbeiterInnen, weil sie bereit sein müssen, Verantwortung für ihr Handeln und für die Gestaltung ihrer Beziehungen zu übernehmen. Selbstführung und Selbststeuerung sind sehr anspruchsvoll. So gelangen z. B. kritische Berichte über die wirt schaftliche Lage des Unternehmens oder mangelnde Kundenzufriedenheit ungefiltert zu den Mitarbeitenden. Es wäre unlogisch, das Top-Management für negative Entwicklungen verantwortlich zu machen. Die Teams sind daher gefordert, mit Irritationen und Ungewissheiten kompetent umzugehen. Wichtig sind hier mentale Modelle, wie:

  • Im Team sind alle Ressourcen vorhanden, um Hindernisse zu überwinden.
  • In den KollegInnen steckt ungeahnte Kraft und Kreativität, wenn ich ihnen vertraue.

 

Wenn kollegiale Spannungen bestehen, muss jede/r im Sinne des Erwachsenen-Ich-Zustands (Eric Berne, Transaktionsanalyse) selbst aktiv werden und unangenehme Themen ansprechen. Der Einsatz von Kommunikationsmodellen, klare Regeln für die Konfliktarbeit und effiziente Formen von Besprechungen und Entscheidungsfindung, gehören zum Grundrepertoire aller Mitarbeitenden, die immer wieder geschult werden.

Psychologische Eigentümerschaft als Schlüssel zum Erfolg

Freiheit und Verantwortung sind in selbststeuernden Organisationen untrennbar miteinander verbunden. F. Laloux schreibt, dass die Übernahme von Verantwortung vom Grad der psychologischen Eigentümerschaft der Mitarbeitenden abhängt (Laloux, S. 267) Psychologisches Eigentum bedeutet, dass sich ein intensiver persönlicher Bezug … ohne rechtliche Grundlage (Druyen, S. 163) zum Unternehmen oder zum Team entwickelt. Psychologische Eigentümer betrachten das Unternehmen als Teil ihres Selbst, als Teil ihrer eigenen Identität und wollen ihm daher Gutes tun (Sieger/Kissling, HR Today 28.08.2013). Dieses Gefühl entwickelt sich in einem Prozess und entsteht ohne, dass jemand im rechtlichen Sinn Eigentumsanteile besitzt. Gestützt wird die emotionale Bindung an das eigene Unternehmen durch:

  • einen klaren, inspirierenden Sinn
  • Transparenz aller zentralen Informationen
  • die Erfahrung, dass Mitarbeitende den Weg des Unternehmens tatsächlich beeinflussen können
  • direktes Feedback des Marktes und der Kunden
  • Vorbildwirkung und Vertrauen in jene Personen, die Selbstführung implementieren wollen

 

Freude an der Verantwortung, Gestaltungswille, Veränderungs- und Lernbereitschaft, Freiheitsliebe, Flexibilität, persönliche, ehrliche und authentische kollegiale Beziehungen, Einholen des unmittelbaren Feedbacks von Kunden (vgl. Buurtzorg oder FAVI) und die Bereitschaft für Geben und Nehmen von regelmäßigem kollegialem Feedback (in und zwischen Teams) sind die wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Implementierung von Selbststeuerung auf der Ebene der MitarbeiterInnen.

Mittleres Management und Mitarbeitende im Support als skeptische Beobachter

Während viele MitarbeiterInnen an der Basis rasch die Freiheit im Sinne einer neuen Gestaltungskraft nutzen lernen, sind das mittlere Management und die Mitarbeitenden der Supportfunktionen oft sehr skeptisch. Ihre Funktionen verwandeln sich in neue Rollen oder werden direkt in Teams integriert (z. B. Buurtzorg mit 10.000 Mitarbeitenden, ca. 30 Personen im Support und einem Geschäftsführer). Das erfordert eine sehr hohe Veränderungs- und Lernbereitschaft, Kreativität, soziale Kompetenz und Klarheit über eigene Stärken, weil sich die betroffenen MitarbeiterInnen oft selbst eine neue Aufgabe im Unternehmen suchen müssen. Meist gelingt die Umstellung gut und die ehemaligen Führungs- und Schlüsselkräfte können die Kraft gemeinsamer Entscheidungen erleben.

Zu-Mutung für Kunden und Lieferanten

Im heutigen Prozessverständnis wirkt sich die Selbststeuerung einer Organisation unmittelbar auf die Zusammenarbeit mit Kunden und Lieferanten aus. Es sind durchaus einige Zu-Mutungen, die dabei gestellt werden: die Nahtstelle in Prozessen ist flexibel; bei Konflikten stehen meist keine Führungskräfte auf gleicher oder übergeordneter Hierarchieebene zur Verfügung und zu viele Ideen und Kreativität können bei Unternehmen, die Kontinuität wollen, als bedrohlich erlebt werden. Auch der Umgang mit Informationen und Transparenz muss erst gelernt und als Qualität erlebt werden. Die mentalen Modelle von Kunden und Lieferanten sind daher für den Erfolg einer selbststeuernden Organisation ebenso wichtig, wie die mentalen Zugänge der GeschäftsführerInnen und der Mitarbeitenden.

Literatur

Druyen, T. (2013). Verantwortung und Bewährung: Eine vermögenskulturelle Studie, Wiesbaden

Laloux, F. (2015): Reinventing Organizations: Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München

Sieger P./Kissling (2013): HR in KMU, Psychologisches Eigentum – das Gefühl zählt!, in: HR Today 28.08.2013. Nach einer Studie von Englisch, P./Sieger, P./Zellweger, T. (2011): Psychologisches Eigentum – wie aus Mitarbeitern Mitunternehmer werden. Ernst & Young

Stewart, I./Joines, V. (2000): Die Transaktionsanalyse: Eine Einführung. Freiburg i. Br.

 

Lesen Sie mehr zum Thema Selbststeuerung in Organisationen in unserer Gesamtausgabe Trigon Themen 02/2016