Trigon Themen

Fragen und Fragmente

Persönliche Betrachtungen & Erfahrungen in außergewöhnlichen Zeiten

von
Harriet Kretschmar und Werner A. Leeb

Die Welt ist so seltsam still geworden. Wenn wir morgens aus dem Fenster sehen, herrscht normaler Weise reges Treiben. Kinder die bereits lärmend am Weg zur Schule sind, LKWs, die Ware ausliefern, ältere Damen und Herren, die schnell noch einen Plausch mit Bekannten pflegen ... heute: nichts davon ... gähnende Leere ... schreiende Stille!

Der Schock und das Leugnen

Mitte März: Die Nachrichten über das Corona-Virus bestimmen zwar schon länger die Nachrichten und vor allem in Italien überschlagen sich die Ereignisse. Ich, Werner sitze hier bei einem Unternehmen, um einige Coaching-Einheiten durchzuführen, danach soll ein Workshop im Seminarhotel stattfinden. Plötzlich erscheint eine HR-Mitarbeiterin mit ernstem Blick und teilt uns den eben verlautbarten Vorstandsbeschluss mit, wir könnten diese Einheit noch vollenden, doch danach müssten wir das Gebäude sofort verlassen. Alle MitarbeiterInnen sollen ihren Arbeitsplatz aufsuchen, ihre Laptops und nötige Unterlagen mit ins Home-Office nehmen und weitere Anweisungen abwarten. Externen sei kein Betreten mehr erlaubt, alle weiteren Veranstaltungen seien gecancelt, weitere Informationen würden folgen.
Ich, Harriet, nehme derweil im Trigon Büro München die unterschiedlichen Kundenreaktionen entgegen von „Wir stornieren alle Fortbildungsaktivitäten für 2020“ bis hin zu „Wir lassen alles weiterlaufen wie bisher, die jährliche Grippewelle ist schlimmer“. Hektik überall.

Der Ärger und Unverständnis

So sitze ich, Werner, eine halbe Stunde später – gleichermaßen irritiert, besorgt und verärgert – im Auto auf dem Weg nach Hause. Zwei „unproduktive“ Tage später, Freitag, den 13 (!), geht es Schlag auf Schlag. Binnen weniger Stunden hagelt es Absagen und Verschiebungen – am Montag der darauffolgenden Woche ist mein dicht gebuchter Kalender für März bis Mai leergefegt. Einige Coaching-Klienten wollen sich noch überlegen, ob wir ersatzweise per Video arbeiten.

Ich, Harriet, bin froh einige meiner Kunden bereits virtuell zu coachen und der Überzeugung, da lässt sich vieles umstellen, doch die Realität holt mich schnell ein. Große Firmen stornieren spontan sämtliche Coaching Prozesse. Keine Chance eine virtuelle Möglichkeit zu unterbreiten. Ist Coaching also doch nur ein Kostenfaktor?

Das Verhandeln – Nicht wahrhaben wollen

Plötzlich haben wir viel Zeit. Aufzuräumen. Nachzudenken. Zu konzipieren. Noch gehen wir davon aus, dass alles nur halb so wild werden wird, eine seltsame Ambivalenz überall.

Eigentlich ist es ja ganz angenehm, gut ausgeschlafen, bei wundervollem Wetter Zeit zum Spazierengehen zu haben. Doch langsam wird deutlich, wir sind fast alleine auf der Straße. Die wenigen Passanten halten Abstand, manche tragen Mundschutz. An den Türen zahlloser Geschäfte, der Hinweis auf behördliche Schließungen, an der Apotheke eine lange Schlange. Überall Schilder mit Warnhinweisen. Gleichzeitig vielerorts eine neue Dankbarkeit, jenen gegenüber, die den Alltag noch am Laufen halten, beim Busfahrer, der Kassierin.

 

Abb: Stadien der Veränderungen (adaptiert – Phasenmodell v. Elisabeth Kübler-Ross,1969)

 

Die Depression – Zweifel, Unsicherheit, Angst

2 Wochen später: Immer wieder geht uns und den Menschen um uns herum die Frage durch den Kopf: Wie soll das weitergehen? Wer zahlt die Miete, die MitarbeiterInnen, die Leasingrate? Wie geht es mit der Wirtschaft weiter? War das das Ende der Globalisierung? Aber auch: Wie werden Alleinstehende oder Familien mit Quarantäne-Situationen fertig? Wird es mehr Konflikte oder gar Suizide geben?

Es ist die Zeit der tatsächlichen und vermeintlichen ExpertInnen. Gleich welches Medium wir nützen, überall wird uns – in oft konträrer Weise – die Welt erklärt. Die redlichen geben zu, dass sie nur schätzen können – oder wie Mark Twain so treffend formulierte: „Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen!“

Die Akzeptanz – Es ist was ist!

Langsam gewöhnen wir uns an den derzeitigen Zustand. Die Erfahrung mit Achtsamkeit trägt dazu bei, mehr und mehr das „Es ist, wie es ist.“ als gegeben anzunehmen.

Immer wieder werden wir gefragt: „Sie sind doch Coach, BeraterIn, TherapeutIn! Wie geht es weiter? Was soll ich tun?“ Auf etliche Fragen, haben auch wir keine Antworten oder würden uns anmaßen, diese zu haben.

Gerade die verordnete Distanz macht so überaus deutlich, wie sehr wir soziale Wesen sind. Trotz all der technischen Möglichkeiten und Hilfsmittel, braucht es die physische Nähe, die Berührung, das „Tertium“ im Buber’schen Sinne, jenes „Zwischen“, das das „Ich“ im „Du“ erkennt und in der Begegnung ein „Mehr“ und damit auch einen „Mehrwert“ entstehen lässt.

Wir sind tatsächlich in einer Situation, in der wir alle zu Lebzeiten noch nicht waren! Der häufige Vergleich mit dem Krieg hinkt jedoch – dort gab es eine klare Definition von Freund und Feind, hier lauern Krankheit, Leid und Tod nicht um die Ecke, sondern potentiell in jedem von uns, wissentlich oder auch nicht.

Es gilt unsere „Zuversicht“ zu bewahren – übrigens Fastenmotto 2020 der evangelischen Kirche Deutschlands. Tag für Tag flexibel auf alle Unabwägbarkeiten zu reagieren, unter Einsatz des besten eigenen Könnens und Wissens und trotz Distanz „gemeinsam“ mit Verwandten, FreundInnen, KollegInnen, – mehr können wir alle zurzeit nicht tun!

Lesen Sie mehr zum Thema Fragen und Fragmente in unserer Sonderausgabe Trigon Themen 01/2020