Next Level Leadership
Anja Köstler im Gespräch mit Albrecht Günther, Mayflower GmbH
Mayflower ist ein IT-Unternehmen. Früher konnte man es mit einem klassischen Organigramm beschreiben. Doch Selbstverantwortung in Kundenprojekten erzeugte neue firmeninterne Führungsstrukturen.
Albrecht Günther ist einer der Geschäftsführer der Mayflower GmbH.
Köstler: Was hat Sie bewegt, Strukturen, Rollen und Prozesse bei Mayflower zu verändern?
Günther: Wir wollten und mussten agil und flexibel in der Entwicklung mit dem Kund en sein. Deshalb hatten wir unsere Arbeitsweise auf Scrum (agiles IT-Entwicklungs-Framework) umgestellt. Anfänglich hatten wir darin nur eine Technik für komplexe Herausforderungen gesehen. Welche Welt sich dadurch für uns auftun würde, haben wir nicht geahnt! Es hat unser ganzes Mindset verändert. Doch zunächst kamen wir in einen Spagat, den wir nicht mehr halten konnten und wollten.
Köstler: Wie zeigte sich dieses spannungsreiche Verhältnis konkret?
Günther: Die Anforderung in der Arbeit mit dem Kunden ist, sehr prozesshaft und transparent zu arbeiten, auch offen und ehrlich etwas zuzugeben. Aber in der Firma gab es diese Transparenz, diesen Umgang mit Entscheidungen und Fehlern nicht.
Köstler: Ihre Mitarbeiter haben Ihnen das als Widerspruch gespiegelt?
Günther: Ja – unsere formalen Strukturen passten mit dem tatsächlichen Workflow und der Kommunikation nicht mehr zusammen. Als Firmenchefs mussten wir einsehen, uns einer Kontroll-Illusion hingegeben zu haben. Denn Anforderungen und Erwartungen ändern sich häufig und schnell, so dass keiner zu Beginn eines Kunden-Projekts weiß, was am Ende stehen wird.
Köstler: Wie haben Sie in dieser Zeit Führungsprozesse gestaltet?
Günther: Wir hatten parallel viel Energie und Zeit in eine Managementrunde der Führungskräfte gesteckt. Doch was dort bearbeitet und entschieden wurde, lief am Bedarf der Teams vorbei. Resultat: verheerende Rückmeldungen, ungefähr in dem Stil: Ihr könnt Euch ja treffen, aber bitte lasst uns arbeiten. Vor zwei Jahren haben wir diese Runde einschlafen lassen. Auch unsere Aufteilung in Titel wie Junior, Senior, Geschäftsführer… und unsere Stellenbeschreibungen haben wir aufgegeben. Fakt war: Die Leute brachten völlig unabhängig von ihrem Titel und ihren Stellenbeschreibungen alle erfolgsrelevanten Qualitäten ein!
Köstler: Wie wurde dieser Verzicht auf klassische Führungsebenen und Rollen denn entschieden?
Günther: Es gibt keinen formellen Beschluss. Denn auch nicht alle im Unternehmen wollen aktiv auf ihre Position, ihren Titel, verzichten.
Köstler: Sie leben etwas, das keine offizielle Beschlussgrundlage hat?
Günther: Hier wirkt die normative Kraft des Faktischen. Die Entwicklung hat firmenintern Titel usw. irrelevant gemacht. Um dies auf zu greifen, hatte ich ins firmeninterne Wiki gestellt: Wer will, kann auf dieser Seite seinen Titel freigeben. Binnen zwei Stunden war die Seite voll. Unser CTO z.B. hat seinen Titel in chief tailwind officer geändert (tailwind = Rückenwind).
Köstler: Welche Relevanz haben Titel dann für Ihre MitarbeiterInnen überhaupt noch?
Günther: Für die meisten intern keine. Nur im Außenauftritt, z.B. wenn man zu einer anderen Firma wechseln will, kann es relevant sein.
Köstler: Wie geschieht dann heute Führung? Wie fallen Entscheidungen?
Günther: Wir haben den Teams hohe Autonomie zugebilligt: Ihr wisst am besten, was ihr braucht. Dazu gehört auch, dass die Teams selber frei Rollen vergeben können. Konkret: Kommt ein Team zur Einschätzung, einen Teamcoach (Product Owner/ Teamleiter/…) zu brauchen, dann ist es frei, sich diesen zu wählen oder anzufordern.
Köstler: In eine Führungsfunktion kommen also die, in deren Kompetenz vertraut wird. Wie fest ist Führung dann an Personen gebunden?
Günther: Gar nicht. Viele Leute übernehmen Führung temporär, projektbezogen, themenbezogen, für eine bestimmte Technologie – immer abhängig von Ort, Zeit, Umständen. Bei uns wird auf viele Leute in dieser Weise gehört.
Köstler: Wie gehen Sie mit übergreifenden Themen um, wenn es keine Management-Runde mehr gibt?
Günther: Zunächst landeten die Dinge nicht gesichert dort, wo sie hingehörten. Doch seit Oktober 2015 machen wir jeden zweiten Freitag das Sync-Meeting: Eine halbe Stunde kommt zusammen, wer will. Bei Bedarf anschließend kleinere Besprechungen. Die Teilnahme ist freiwillig, wie fast alle Meetings. Anfangs kamen 15 Leute, mittlerweile jeder, denn in dieser Runde kann alles zur Sprache gebracht werden. Wir sitzen im Kreis. Das ist bedeutsam, denn jeder sieht jeden in gleicher Weise. Dann wird gefragt: Was steht an? – Dort zeigt sich, welche Teams mehr Leute brauchen, wer in ein anderes Team wechseln will, welche neuen Projekte anstehen…
Köstler: Und da kommt „alles“ auf den Tisch?
Günther: Ja, da ist offene Sprache. Jeder weiß, dass wir nicht unsere Geschäftsführer-Karte ziehen. Der Beitrag eines Crewmitglieds zählt ebenso wie der eines Geschäftsführers.
Köstler: Wie kommt es, dass Ihre Mitarbeiter Ihnen das auch glauben?
Günther: Wir wirken als Personen. Wir nehmen die Leute ernst – und dadurch mit. Erkenntnis, nicht Gehorsam, macht Handlungsänderung möglich. Wir sagen nicht: So wird es gemacht, weil ich es sage.
Köstler: Das heißt, Sie bauen auf Gespräche, auf permanenten Diskurs?
Günther: So sehen wir unsere Rolle im Unternehmen: Dafür sorgen, dass alle ihre Kompetenzen einbringen können und mit den Mitarbeitern passende Entscheidungen finden. Wir als Unternehmer machen heute viel Koordination, Abgleich, Kommunikation, Austausch von Informationen und Ressourcen.
Köstler: Was passiert z.B., wenn ein neuer Kunde auf Sie zukommt?
Günther: Wir nehmen es ins Sync-Meeting mit: Wie machen wir das jetzt? Wie ist es am besten für Mayflower? Köstler: Sie liefern nicht die Entscheidung oder Lösung, sondern die klare Beschreibung der Aufgabenstellung. Günther: Aus dem Wissen, dass im Sync-Meeting wichtige Infos für die Weiterarbeit zusammenkommen. Dort werden möglichst viele Informationen/ Ideen/mentale Modelle miteinander abgeglichen, um zum bestmöglichen Handeln zu kommen.
Köstler: Wie kommt die Außenwelt mit dem Fehlen von definierten Positionen bei Mayflower zurecht?
Günther: Der Kunde erwartet oft eine Spiegelung seines eigenen Unternehmens beim Dienstleister. Deshalb bedienen wir im Außen die formelle Rolle Geschäftsführer.
Köstler: Wenn Sie den Prozess – aus Sicht heute – zusammenfassen?
Günther: Wir haben unsere Managementstrukturen stark abgebaut, die Geschäftsführung ist in den Hintergrund getreten, während die Teams sehr eigenverantwortlich die Leistung für den Kunden handhaben und sich für das Gesamtwohl des Unternehmens einsetzen. Wir haben unternehmensübergreifende Prozesse und Regeln abgebaut und sparen dabei viel Energie. Das Erstaunliche ist: Letztes Jahr hatten wir eine Umsatzsteigerung von 30 Prozent. Und für die Branche ungewöhnlich: Wir haben einen festen Mitarbeiter-Stamm, eine sehr niedrige Fluktuation.
Köstler: Danke für das Gespräch!