Trigon Themen 02|2019

Systemisch-evolutionär.Unser Coaching-Ansatz

Coaching und die Kraft verkörperter Imagination

von Harriet Kretschmar

Verhalten, Ausstrahlung, Atmosphären bewusst und vor allem nachhaltig zu verändern ist eine Herausforderung. Methoden aus dem Umfeld darstellender Kunst zeigen Wege auf.

„The most important things in the world exist only in our imagination“ schreibt Bestsellerautor Yuval Noah Harari und nimmt damit Bezug auf eine Fähigkeit, die es dem homo sapiens ermöglicht hat, die Erde zu erobern. Was aber ist überhaupt unter Imagination zu verstehen, wie ist die Tätigkeit des Imaginierens zu beschreiben? In erster Linie geht es um eine Fähigkeit des Geistes, Bilder (lat. Imago) entstehen zu lassen. Im Gegensatz zum Träumen bedeutet Imaginieren eine mehr oder weniger bewusst gesteuerte Aktivierung von Vorstellungen. Dies umfasst sowohl das Hervorrufen von Bildern aus der schöpferischen, kreativen Kraft der Phantasie, als auch das Reproduzieren von sinnlich wahrgenommenen äußeren Realitäten (Erinnerungen) und Objekten vor dem geistigen Auge. Imagination verändert unser Erleben und dadurch wiederum die äußere, erfahrbare Welt. Imaginationen ausschließlich im Geistigen anzusiedeln würde diesen aber nicht gerecht werden. Sie sind nicht nur innere Fotografien, sondern gehen einher mit Empfindungen, Gefühlen und im Körper verankerter Willenskraft.

Das Zusammenspiel von Denken, Fühlen und Wollen ist eines der Urbilder, auf dem der systemisch-evolutionäre Coaching-Ansatz von Trigon beruht. Das Modell veranschaulicht, dass rein kognitive Prozesse ohne die Berücksichtigung deren Verankerung im Fühlen und im Wollen gar nicht möglich sind.

Imagination als Intervention

Die Imagination der Kundinnen und Klienten zu nutzen ist eine anerkannte Interventionsmethode, ob nun von außen angeregt – unter anderem durch angeleitete Phantasiereisen – oder von innen durch Autosuggestion (zum Beispiel durch mentales Sporttraining) beziehungsweise durch das Warten auf aufsteigende Bilder im Zustand der Achtsamkeit.

Bewusstseinsinhalte, die erst nicht zugänglich waren, können so ins bewusste Erleben geholt und als Ressourcen zu persönlicher oder organisationaler Entwicklung fruchtbar gemacht werden. „Von der Beschaffenheit dieser einmal entstandenen inneren Bilder hängt es ab, wie und wofür ein Mensch sein Gehirn benutzt und welche neuronalen und synaptischen Verschaltungen deshalb in seinem Gehirn gebahnt und gefestigt werden.“ schreibt Gerald Hüther (2014, S. 9).

Abb.: Trigon-Modell Denken, Fühlen, Wollen

Embodiment

Wie können aber nun bestehende Verschaltungen verändert und neue dauerhaft angelegt werden? Einsicht allein führt nicht zu Umstrukturierung. Wer jedoch Verhalten, Ausstrahlung, Atmosphären ändern möchte, muss die intuitiven und unbewusst ablaufenden Prozesse unterhalb der oberen limbischen Ebene (Ort der emotionalen Prägung) ansprechen. Diverse Veröffentlichungen von Alica Ryba (2018, S. 459) und Gerhard Roth zeigen auf, dass der Einbezug des Körpers durch „körperlichaffektive Interventionen und prozedurales Einüben“ langfristig am nachhaltigsten greift. Im Coaching werden körperorientierte Ansätze bisher eher wenig genutzt, auch wenn die bekannte Arbeit von Maja Storch u.a. (2010) Embodiment explizit beschreibt.

Imaginationen verkörpern

Wenn Schauspieler sich in eine Rolle einarbeiten, müssen sie – da manchmal ja außer einem Drehbuch- Text nichts zur Verfügung steht – mit Imaginationen arbeiten und diese dann verkörpern. Denn sie stehen ja mit ihrem Körper auf der Bühne. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann der russische Regisseur K. Stanislawski mit systematischem Schauspiel-Training. Dieses wurde von seinem Schüler M. Chekhov verändert und weiterentwickelt. Viele Übungen aus dessen Fundus eignen sich auch für die praktische Coachingarbeit. Aber passen diese überhaupt in den Kontext von Coaching, bei dem es um die vielzitierte Authentizität gehen soll und nicht darum, ein „Industrieschauspieler“ zu sein, wie es ein Klient nannte? Dem liegt das Missverständnis zu Grunde, dass Schauspielen „so tun als ob“ bedeutet. Es geht aber vielmehr um ein Eintauchen in Denken, Fühlen und Wollen, sowie das damit einhergehende Verhalten, also sprich in die innere Wahrhaftigkeit und Lebendigkeit der jeweiligen Rolle. Wir alle leben verschiedene Rollen – gestalten wir diese bewusst oder passieren sie uns einfach? Gerade beim in Führungskreisen oft angestrebten Charisma gibt es die Vorstellung, dass man es entweder hat oder eben nicht. Aber bewusstes Ausstrahlen ist erlernbar.

Beispiele aus der Coaching Praxis

Eine Klientin beginnt mit einer Imagination (“Ich als souveräne Führungskraft“), die sie dann körperlich tatsächlich ausführt und dabei beobachtet, was im Fühlen und Denken passiert. Ein Klient macht eine Stopp-Geste und registriert, welche Imaginationen dabei in ihm auftauchen. Ziel ist es, die Körperhaltungen und Gesten solange physisch durchzuführen, bis sie im Alltag rein imaginativ hervorgerufen werden können, da sie nun verschaltet sind. Das bedeutet Üben, Üben und nochmal Üben.

Der Schwellenübertritt: Eine Führungskraft möchte mehr Akzeptanz für ihre Rolle erfahren. Jeden Morgen beim Betreten des Bürogebäudes sammelt sie sich und macht einen bewussten Schritt raus aus dem Alltag, hinein in die im Coaching erarbeitete und nun imaginativ verfügbare Führungsrolle. Dies löst bei den Mitarbeitenden ein anderes Verhalten aus.

Die sechs Raumrichtungen: Eine Projektleiterin hat den Eindruck, dass permanent ihre Grenzen überschritten werden. Mit den Händen soll sie oben/unten, vorne/hinten, rechts/links ihren Grenzen aufzeigen. Dabei stellt sich heraus, dass ihre Bewegungen unsicher und zaghaft sind und wenig Raum einnehmen. Das Bewusstmachen und Üben, dezidierter und mit mehr Raum zu agieren, ließ sie mehr Respekt erfahren.

Objektive Atmosphäre

Ein Team wünscht sich eine Kultur der Offenheit. Anfänglich gehen die Mitglieder mit Gesten der Öffnung und Expansion (zum Beispiel Arme ausbreiten) durch den Raum und zwar solange, bis sie von außen den Eindruck haben, der Raum wäre mit Offenheit gefüllt. Dann gehen sie in den Raum zurück und lassen sich von dieser Atmosphäre anstecken, während sie kleine Aufgaben erfüllen, wie zum Beispiel eine Tür zu öffnen, sich zu begrüßen, sich zu setzen. Die Erfahrung wie sich Offenheit anfühlt, unterstützte die Umsetzung in den Alltag.

Fazit

Der bewusste Einbezug des Körpers in Aktivität ist ein wirksames Werkzeug für das Erreichen unterschiedlichster Coachingziele – in Bewegung oder auch nur in der inneren Vorstellung. Die Potenziale sind bisher bei weitem nicht ausgeschöpft und regen an zu weiterem Erforschen und Tun.

Literatur

Chekhov, M. (1985). On the Technique of Acting. New York.

Harari, Y. N. (2015). Eine kurze Geschichte der Menschheit. München.

Ryba, A. (2018). Die Rolle unbewusster und vorbewusst-intuitiver Prozesse im Coaching. Göttingen.

Storch, M.; Cantieni, B.; Hüther, G.; Tschacher, W. (2010). Embodiment. Bern.

Hüther, G. (2014). Die Macht der inneren Bilder. Göttingen.