Besuche beim Paradebeispiel Buurtzorg und zwei weiteren Pionierunternehmen 4.0
Buurtzorg ist eine der bahnbrechenden Organisationen, die in den letzten Jahren Management neu erfunden haben. Vieles wurde
bereits über das Unternehmen geschrieben. Wir waren dort. Und bei Geistesverwandten, die Augenhöhe noch weiter denken.
Zum Kaffee bei Jos de Blok
Der Gründer von Buurtzorg nimmt sich einen ganzen Nachmittag Zeit für uns. Er ist heute ein begehrter Gesprächspartner für die nationale und internationale Politik und die Träger des öffentlichen Gesundheitswesens. Internationale Delegationen stehen Schlange, um von Buurtzorg zu lernen. Auch wir wollen das. In der Buurtzorg-Zentrale im niederländischen Almelo entwickelt sich ein inspirierter Austausch mit Jos, meinem Freund und Beraterkollegen Marc Whetmar und Franz Luzum, Geschäftsführer eines großen fachübergreifenden Therapiezentrums sowie Trigon zertifizierter Coach. Jos ist ein humorvoller, lebendiger und dabei wohltuend entspannter Gesprächspartner.
Als ich ihm von den niederländischen Ursprüngen von Trigon erzähle, vom NPI (einer der beiden Wiegen der europäischen Organisationsentwicklung) und von Bernard Lievegoed, strahlt Jos übers ganze Gesicht: Das sind genau auch meine Quellen. Wie lebendig und erfolgreich er diese gemeinsamen Impulse in die Praxis umgesetzt hat, beeindruckt uns zutiefst.
Bei der Arbeit mit Ans
Vor dem Besuch bei Jos sind wir mit Ans am Standort Delden unterwegs. Auch Ans nimmt sich viel Zeit. Sie ist dort eine von derzeit elf gleichrangigen Mitarbeiterinnen. Vor ein paar Wochen hat sie sich auf die Anfrage von Jos im Buurtzorgweb gemeldet: Wer könnte sich um uns drei Besucher kümmern? Sie zeigt und erzählt uns nun alles. Praktisch, fröhlich, ungeschminkt, so wie es wohl generell ihre Art ist. In der Heimkrankenhilfe ist sie seit 18 Jahren, bei Buurtzorg seit sieben Jahren. Wechseln will sie nie wieder.
Eine harte Branche
Sie erzählt, wie die Heimkrankenhilfe in Holland bis vor kurzem straff nach einer Logik organisiert war, die Jos als Maschinenlogik bezeichnet: Normzeiten für jede Tätigkeit, zum Beispiel zehn Minuten für das Duschen, vier Minuten für die Zahnpflege, zweieinhalb Minuten für den Wechsel von Kompressionsstrümpfen. Je nach Verfügbarkeit wurden für die PatientInnen unterschiedliche Pflegekräfte eingeteilt, nach detaillierten Dienstplänen aus einer zentralen Planungsabteilung.
Eine wesentliche Aufgabe der meist fachfremden Führungskräfte lag in der Effizienzsteigerung, also in der Kontrolle der Normzeiten und Abmahnung bei Überschreitung.
Jeder, der in Europa im Sozialbereich tätig ist, kennt die Schattenseiten dieser Logik: Für die PatientInnen ist es schwierig, jeden Tag von einer neuen, unbekannten Person gepflegt zu werden, die die Tätigkeiten nach Katalog und unter Zeitdruck abwickeln muss. Die Mitarbeitenden haben sich oft für diesen Beruf entschieden, um anderen zu helfen. Das System hatte sie zu Robotern degradiert, erzählt Ans und berichtet von Demotivation, Druck, Depressionen und Krankheiten bei den ehemaligen Kollegen.
Augenhöhe als der zentrale Treiber für Agilität, Innovation und Effizienz
Bei Buurtzorg können Ans und ihre Kollegen ihren PatientInnen auf Augenhöhe begegnen. Sie kennen sie persönlich. Statt einen Standardkatalog abzuspulen, unterstützen sie sie dabei, möglichst selbstständig für sich zu sorgen und dabei, ihr Umfeld einzubeziehen. Ans nimmt sich Zeit für ihre PatientInnen.
Sie erkundigt sich, was sie noch selbst tun können, zeigt ihnen oder Angehörigen bestimmte Handgriffe und Techniken. Sie macht PatientInnen mit NachbarInnen bekannt, um das Unterstützernetzwerk zu erweitern. Sie selbst macht nur, was niemand anderer tun kann. Diese Grundhaltung schafft Lebensqualität, Vertrauen, Sinn, erzählt sie uns. Und ist beeindruckend effizient: Buurtzorg stellt die finanzielle und medizinische Bilanz aller anderen Anbieter weit in den Schatten. Die Einsparungen für das holländische Sozialversicherungssystem belaufen sich auf mehrere hundert Millionen Euro jährlich.
Augenhöhe gilt aber nicht nur in Richtung KundInnen, sondern auch untereinander. Buurtzorg hat heute rund 800 Teams mit je zehn bis zwölf Pflegekräften. Die Management-Aufgaben teilen sie sich selbstständig untereinander auf.
Das Deldener Team sucht gerade Verstärkung. Eine Kollegin von Ans ist für die Suche und Vorauswahl des oder der Neuen zuständig. Die Entscheidung fällt dann im Team. Ans selbst übernimmt die Moderation der Teambesprechungen. Eine dritte Kollegin übernimmt die Planung der Wochenenddienste.
Was wäre, wenn die Nachfrage zu viel würde für die bald zwölf Mitarbeitenden in Delden? Das Team würde eigenständig eine Marktrecherche durchführen, das Ganze kurz mit der Zentrale abstimmen, sich aufteilen und für den neuen zweiten Standort ein Büro suchen und anmieten. Ans war bei einer solchen Zellteilung schon beteiligt.
Digitalisierungschancen perfekt genutzt
Ans zeigt uns die firmeneigene Software. Franz Luzum, der die Branche von innen kennt: Mit diesem System gelingt etwas, was ich mir seit vielen Jahren wünsche: Die Integration aller relevanten und darstellbaren Prozesse auf einer einzigen Plattform, die jeder handhaben kann. Übersichtlich, Smartphone-tauglich und durch die Rollenzuordnung in den Teams für große Usergroups sehr einfach und differenziert freizugeben. Über Buurtzorgweb erfolgt die Planung und Administration aller Arbeits- und Supportprozesse und die unternehmensweite Kommunikation. Mitarbeitende helfen sich hier mit fachlichen Tipps. Ans lädt zum Beispiel ein Foto einer Wunde hoch und erhält wenig später einen Pflegehinweis dazu von einer Kollegin und Wundexpertin aus einem Team in Utrecht.
Die Grundprinzipien sind branchenunabhängig
Frederic Laloux und Sharda Nandram haben jeweils Bücher geschrieben, in denen sie herausarbeiten, wie die wesentlichen Gestaltungsprinzipien und Erfolgsfaktoren von Burtzoorg und anderen Organisationen branchenunabhängig funktionieren. In Laloux‘ Reinventing Organizations reicht die Palette vom Automobilzulieferer FAVI über die Evangelische Schule Berlin Zentrum bis hin zu Amerikas größtem Tomatenverarbeitungsunternehmen.
Augenhöhe im Innenverhältnis ist eines der wesentlichen gemeinsamen Merkmale. Aber das Thema lässt sich noch weiter denken. Über Unternehmensgrenzen hinweg um ganz Branchen zu verändern, wie das Ian George getan hat. Oder länderübergreifend zwischen verschiedenen Kulturkreisen wie bei Kaliis
Ian George: Augenhöhe zwischen australischen Bauunternehmen
Tiefgehende Gespräche zum Thema Agilität und Augenhöhe konnte ich bei anderer Gelegenheit auch mit dem australischen Bauunternehmer Ian George führen. Sein Unternehmen CGA Bryson hat radikal auf Augenhöhe, Vertrauen, kalkulierbare Preise und langfristige Partnerschaften zwischen allen beteiligten Unternehmen gesetzt und damit so ziemlich alles auf den Kopf gestellt, was davor in der ebenfalls harten Baubranche als unhinterfragbar galt. Das Ergebnis: Rasches, flexibles Agieren aller Beteiligten, für alle Seiten höhere Profite und für die Kunden geringere Bauzeiten und geringere Kosten. Auch zu seinen Erfahrungen gibt es ein Buch: From Me to We (siehe Buchtipp Seite 14 in dieser Ausgabe).
Auf der Website zum Buch finden sich ergänzendes Material und ein Video von Ian. Darin erklärt er mit ein wenig Obst den Unterschied zwischen seinem alten, hierarchischen und seinem neuen, kollaborativen Verständnis. Genau so, wie er das in vielen Workshops mit seinen Mitarbeitern und Kollegen gemacht hat. Achtung: Starker australischer Akzent ;o)
Kaliis: Augenhöhe zwischen Unternehmern aus erster und dritter Welt
Das Unternehmerduo Tina und Matthias Eckert denkt das Thema Augenhöhe noch weiter: Ihr agil organisiertes, mehrfach ausgezeichnetes und in mehrere Länder hervorragend vernetztes Startup Kaliis ermöglicht transformative Leadership Journeys für Führungskräfte und UnternehmerInnen aus Europa, Nepal, Uganda und Mexiko. Die länder- und kulturenübergreifende Begegnung folgt der Logik von Otto Scharmers Theory U. Sie fördert Augenhöhe, Auseinandersetzung mit tiefen Fragen zur eigenen Führungsarbeit und Persönlichkeitsentwicklung, zu den Herausforderungen von Digitalisierung und globalen Entwicklungen für alle Beteiligten.
Kaliis folgt dabei der Vision einer Gesellschaft 4.0, die sich auch dadurch kennzeichnet, dass Führungsentscheidungen nicht mehr aus einem eingeschränkten individuellen Blickwinkel getroffen werden, sondern aus einem globalen Bewusstsein heraus. Einer Gesellschaft, die sich vom Ego- zum Ökosystem wandelt, wie Otto Scharmer die Entwicklung bezeichnet.
Literatur
Glasl, F. & Lievegoed, B. (2016): Dynamische Unternehmensentwicklung. Haupt.
Hanman, S. & George, I. (2014): From Me to We: Design and Build Collaborative Workplaces. Collaborative Enquiry.
Laloux, F. (2014): Reinventing Organizations. Nelson Parker.
Nandram, S. (2014): Organizational Innovation by Integrating Simplification: Learning from Buurtzorg Nederland. Springer.
Scharmer, C.O. & Kaufer, K. (2014): Von der Zukunft her führen. Theorie U in der Praxis. Carl Auer.
www.collaborativeenquiry.com
www.Kaliis.com