Führung auf Augenhöhe
Geachtete Führungskräfte haben immer auf Augenhöhe agiert, agile Organisationen hingegen verlangen dies nicht nur von Führungskräften, sondern von allen Mitarbeitenden.
Mit der Metapher Augenhöhe ist eine Beziehungsqualität in der Zusammenarbeit gemeint, die im wissenschaftlichen Diskurs Gleichwürdigkeit genannt wird. Der Erziehungsforscher Jesper Juul bezeichnet damit eine Subjekt-Subjekt-Beziehung in Familie und Schule, die das Kind auf Augenhöhe respektiert, anstatt es zum Objekt zu machen (Juul 2009). Im Arbeitskontext wären mit Objekt die Arbeitskraft, die Mitarbeiter oder das Personal gemeint.
Mitarbeitenden auf Augenhöhe zu begegnen heißt in diesem Sinne, dass diese nicht als Ressource behandelt werden, sondern als freie und gleichwürdige Menschen. Im Zusammenspiel mit der Positionsmacht einer Führungskraft eine schwierige Herausforderung, bei der mit Scheitern gerechnet werden muss. Und hier genau setzen agile Organisationen an: Durch die Neuverteilung von Entscheidungsrechten im System machen sie es dem Individuum leichter, auf Augenhöhe zu agieren.
Paradigmenwechsel zur Gleichwürdigkeit
Juul spricht diesbezüglich von einem so neuen und tiefgreifenden Paradigmenwechsel, dass er manchen Autoritätspersonen nicht mehr gelingen kann. Sie können sich den zentralen Führungsprozess des Orientierungschaffens nicht vorstellen, wenn sie auch Mitarbeitenden autonome Entscheidungsrechte einräumen wie zum Beispiel bei Holacracy.
Die Sorge, dass Augenhöhe den Führungsprozess gefährde, ist aber deshalb schon überzogen, weil diese nur auf einer von mindestens zwei Kommunikationsebenen gilt, nämlich auf der Beziehungsebene (Watzlawick 1969, Menschliche Kommunikation). Auf einer zweiten Ebene, der Inhaltsebene, werden sehr wohl unterschiedliche Argumente und Verantwortlichkeiten wirksam, was für wirksames Führen ausreichend ist. Im Gegenteil, je vertrauensvoller, respektvoller und loyaler die Beziehung zwischen Menschen ist, umso leichter gelingen inhaltliche Auseinandersetzungen und Verständigungsprozesse.
Auf der Beziehungsebene können wir also Augenhöhe pflegen, und zugleich werden auf der Inhaltsebene Unterschiede geordnet wirksam. Kraft der Argumente und Kraft der Verantwortlichkeit für übergeordnete Aufgaben können sich Führungskräfte sehr wohl gegenüber Mitarbeitenden durchsetzen, auch wenn – oder besser: gerade weil – sich beide als Menschen gleichwürdig achten (vgl. Seminar H. Salzmann Wertschätzende Konfrontation).
Im Kern der Gleichwürdigkeit steht die Würde, hier wohl am besten definiert als Recht auf Selbstverpflichtung. Der Führungsprozess ist demgemäß dann auf Augenhöhe gelungen, wenn Mitarbeiter sich selbst freiwillig zu den notwendigen Aufgaben verpflichten.
MbO gelingt nur auf Augenhöhe
Interessant ist nun, dass das heute wohl verbreitetste Führungssystem, das Führen mit Zielen (MbO) nur dann funktioniert, wenn es auf Augenhöhe praktiziert wird. Peter Drucker, dessen Erfinder, hatte 1954 schon die Vision, dass beim Führen durch Ziel- und Aufgabenklärung der Mitarbeiter nicht deshalb handelt, weil ein anderer es verlangt, sondern weil er selbst überzeugt ist, dass es nötig ist. (Drucker 1954).
Das Führen mit Zielen war in der Theorie also schon auf Augenhöhe angelegt. Die Praxis schaut allerdings anders aus, denn in zu vielen Organisationen werden Ziele nicht ernst genommen, weil sie eben nicht auf Augenhöhe zustande kommen. Das Commitment zu einer Aufgabe kann nur dann wirklich stark sein, wenn der Mensch sich selbst freiwillig auf Basis von Einsicht und Vertrauen zu dem Ziel verpflichtet.
Und das genau ist der damit gar nicht so revolutionäre Kern des Agilen Managements, dass jeder Mensch sich freiwillig zu seinen Aufgaben verpflichtet.
Nicht-Augenhöhe, ein Übergriff
Um Augenhöhe klar zu verstehen, müssen wir sie von der Nicht-Augenhöhe abgrenzen, die entweder unter oder über der Augenhöhe liegen kann. Sehen Führungskräfte ihre Vorhaben bedroht, so laufen sie Gefahr, in eine unbewusste Über-Ich oder Eltern-Haltung gegenüber Mitarbeitern zu gehen (Freud). Diese reagieren dann häufig aus einer ebenfalls unangemessenen Kindhaftigkeit mit Trotz oder ängstlicher Anpassung (vgl. die Seminare von W. Vogelauer zur Transaktionsanalyse).
Wir alle sind in hohem Maße gefährdet, immer wieder die Augenhöhe zu verlieren, insbesondere dann, wenn wir Macht verliehen bekommen. Es muss nicht immer so deutlich sein, wie bei jener Schulleiterin, die bei Workshop-Beginn die Lehrenden mit einem Gsch, Gsch, Gsch dazu bewegen will, ihre Materialien vom Tisch zu räumen. Nicht auf Augenhöhe sind auch Führungskräfte, die vor dem Team keine Fehler zugeben können, die ihre Teammitglieder loben und motivieren, die für die Mitarbeiter ein Leitbild verfassen, die in solchen Leitbildern schreiben, unsere Mitarbeiter sind unsere wichtigste Ressource, die Mitarbeiter beurteilen, ohne sich selbst dem Urteil der Mitarbeiter zu stellen usw. Als regressives Gegenstück ist in solchen Organisationen das Jammern und Schimpfen auf die Führung weit verbreitet und eine generelle Scheu, kritisch zu denken, offen zu sprechen und Selbstverantwortung zu übernehmen.
Bewusstseinsentwicklung und Führung
Menschen, die offen miteinander lernen und ihr Verhalten gegenseitig kritisieren, seien es Führungskräfte oder selbstgesteuerte Teams, müssen eine Wachheit gegenüber diesen Dynamiken entwickeln, um nicht in kindhafte Affekte zu regredieren oder ihr Über-Ich anderen belehrend überzustülpen. In der Philosophie der Freiheit beschreibt Rudolf Steiner drei Stufen der moralischen Entwicklung: Erstens den triebhaften Egoismus, der dem Freud’schen Kind-Ich entspricht, zweitens den gehorsamen Menschen, der zunächst ein Über-Ich als Gegenüber braucht, das er dann internalisiert und zum eigenen Über-Ich macht und drittens das freie und verantwortliche Selbst, das aus Einsicht handelt. Auch für C. G. Jung ist die Phase eines disziplinierenden Über-Ichs nur ein Übergangszustand auf dem Weg zum authentischen Selbst. Nur das authentische Selbst ist zu der notwendigen Wachheit und Kritik gegenüber den eigenen Nicht- Augenhöhe-Tendenzen bereit und kann den Selbstwert dabei aufrechterhalten.
Mit der agilen Organisation wird der dritte Entwicklungszustand des authentischen Selbst eine Notwendigkeit, und zwar nicht nur bei Führungskräften, sondern bei allen Mitarbeitenden. Denn die Autorität wird in agilen Organisationen nicht abgeschafft, ja meistens nicht einmal reduziert, sondern neu im System verteilt, sodass alle Mitarbeitenden in abgegrenzten Bereichen das Recht haben, Ermessensentscheidungen zu treffen, nachdem sie sich mit anderen dazu beraten haben.
Es deutet einiges darauf hin, dass unsere Gesellschaft sich insgesamt aus einem Entwicklungsstadium emanzipiert, in dem die Überstülpung eines fremden Über-Ichs hingenommen wird, sei es in Führung, Lehre, Politik oder in den Medien. Auch wenn damit zugleich auch Rückfälle in eine schon überwunden geglaubte Triebhaftigkeit beobachtbar sind, könnte das Hauptphänomen eine Entwicklung hin zu einer neuen Kultur der Augenhöhe sein.
Literatur
Drucker, P. (1954): Die Praxis des Management, Düsseldorf
Juul, J. (2009): Vom Gehorsam zur Verantwortung, Weinheim
Robertson, B. (2016): Holacracy, München