Neue Arbeitswelten – Vom ICH zum WIR
von
Günther Karner und Sabine Zinke (M.O.O.CON)
Der Raum als Managementinstrument – wie man neue, identitätsstiftende und nachhaltige Arbeitswelten schafft.
In den letzten Monaten haben wir Erfahrungen gemacht, die unsere Arbeitsweise und unsere Arbeitswelt verändern. Wie nachhaltig diese Entwicklungen sind, wird gerade in den HR- und FM-Abteilungen intensiv diskutiert. Viele Unternehmen überdenken aktuell ihre Raumkonzepte im Hinblick auf ihre Erfahrungen in der Corona Krise.
Das Home-Office wird ein fixer Bestandteil unserer Arbeitswelt werden und die Rolle des Unternehmensbüros wird sich noch mehr zu einem Ort der Begegnung und des Austausches, zu einem identitätstiftenden WIR-Ort entwickeln. Genau das, was wir in letzter Zeit am meisten vermisst haben. Das Thema Raum als Managementinstrument ist aktueller denn je.
Der Raum als Managementinstrument
Raum ist ein perfektes, sehr angreifbares Medium, um Organisationsfragen zu diskutieren. Am Raum werden Themen der Unternehmens- und Führungskultur, der Zusammenarbeit, der Arbeitsweisen und des Vertrauens direkt oder indirekt sichtbar, bearbeitbar und im Endeffekt physisch manifest. Die Kunst liegt darin, diese Diskussion zukunftsorientiert zu führen und nicht an der Gegenwart krampfhaft festzuhalten. Ein kritisches Hinterfragen der tradierten Arbeitsweisen und ein mutiger Blick in die Zukunft sind gefragt.
Seine Organisation neu denken
Wann gibt es schon die Möglichkeit, das, +WIE+ und das, +WAS+ wir arbeiten, völlig neu zu denken? Ein Umzug in ein neues Gebäude, ein Neubau, eine Neugestaltung eröffnet die Möglichkeit, sich quasi auf einem weißen Blatt neu zu entwerfen. Arbeitsweisen, Prozesse, kulturelle Aspekte werden Thema und können aktiv auf ihre Zukunftstauglichkeit hinterfragt werden.
+Activity Based Working+
Als Folge der Digitalisierung verlagert sich die Arbeitswelt immer stärker auf geistige Arbeit (Stichwort: „Wissensarbeitende“). Dabei verändert sich auch die Arbeit selbst radikal. Sie wird immer mobiler und inhaltlich komplexer. Der Fokus der Tätigkeiten liegt nicht mehr auf routiniertem Abarbeiten, sondern auf Kommunikation und Zusammenarbeit. Das wiederum hat enorme Auswirkungen auf die Arbeitsräume. Bisherige Gestaltungslösungen werden von Grund auf in Frage gestellt. Räume, die Kommunikation in den Mittelpunkt stellen, sind gänzlich anders strukturiert und stehen oft im Widerspruch zu traditionellen Vorstellungen, wie ein Office auszusehen hat.
> Begegnung bekommt Raum <
Es geht auch beim Raum hin zu einer gemeinsamen, effizienten und ressourcenschonenden Nutzung. Vom +ICH+ zum +WIR+ bedeutet auch, ich gehöre zu einem Team, zu einem Bereich, einem Unternehmen, einer Gruppe, einem Netzwerk. Die Identifikation verändert sich. Das +ICH+ hängt nicht mehr am Schreibtisch/Zimmer. Das +WIR+ bekommt mehr Gewicht und der Fokus der Identifikation verschiebt sich auf „unsere Unit, unsere Homebase“.
Aktuell gibt es zwei Denkschulen, wenn es um neue Raumlösungen geht. Der eine Ansatz ist +personenorientiert+ und besagt: Jeder Mitarbeitende hat seinen Arbeitsplatz und verrichtet hier mehr oder weniger seine Haupttätigkeiten. Der andere Ansatz ist der +tätigkeitsorientierte+: Die Arbeitsplätze werden nicht mehr einzelnen Personen zugeordnet, sondern auf der Grundlage von Organisationsmodellen und Tätigkeiten geplant. Das Prinzip +Besitzen+ wird vom Prinzip +Teilen+ abgelöst. Konkret bedeutet das, dass sich die Mitarbeitenden die für die jeweilige Tätigkeit besten Plätze bzw. Räume suchen. Dieser Ansatz ist für viele Menschen etwas sehr Ungewohntes und Neues. Er ist aber stark im Kommen und basiert auf der Idee der +Sharing Economy+, auf dem „weg vom +EGO+- und hin zum +ECO+-Denken“.
Wenn die Mobilität der Menschen höher als 25 Prozent liegt, kann man tätigkeitsorientierte Raumkonzepte mit gutem Erfolg umsetzen. Gerade für Organisationen, die sich von der Differenzierungs- in die Integrations- und Assoziationsphase (vgl. Friedrich Glasl, Trigon) aufmachen, geben Raumlösungen, die +activity-based+ sind, einen optimalen Rückenwind für eine innovative Organisationsentwicklung.
Integrative Entwicklungsprozesse
Von großer Wichtigkeit erscheint uns eine gute Verschränkung von eventuell parallellaufenden Entwicklungsprozessen (Organisations-, Führungskräfte-, Strategie-, Arbeitswelt-, Personalentwicklung, Flexibilisierung der Arbeit etc.). Sie alle sollten auf die „gleichen Themen einzahlen“ und in die gleiche Richtung treiben. Es geht um +EINE+ Story. Am Ende muss klar sein, wohin sich die Organisation bewegt, was es dazu braucht und wie der Raum dabei unterstützen kann.
Dabei gilt es wie in jedem Veränderungsprozess, die Betroffenen zu Beteiligten zu machen und den Spagat zu gehen zwischen Abholen, Bedürfnisse ernst nehmen und ins Neue führen. Wichtig ist, rasch eine Klarheit bezüglich Gestaltungsspielräumen herzustellen und strategische Leitplanken zu definieren. Die tiefe Einbindung von Nutzerinnen und Nutzern in die Entwicklung des Raumkonzepts ist für den Change Prozess enorm wichtig, erlaubt aber oft nicht den radikalen Zukunftsentwurf, der vielleicht möglich/nötig wäre. Die vom Management gesetzten strategischen Leitplanken sind daher essenziell, um das Potenzial für die Organisationsentwicklung auch wirklich heben zu können.
Mercedes Benz Operations, …
ein Bereich der Daimler AG, startete 2016 mit einem partizipativen Prozess der Entwicklung einer neuen Arbeitswelt für ein neu entstehendes Bürogebäude. Rund 2.000 Mitarbeitende arbeiten nun seit Mitte 2018 im +EHO+ (Engineering Hub Operations) – ein Gebäude, das Entwicklung und Planung verbindet. An der Entwicklung der neuen Arbeitswelt waren 60 Nutzervertreter und an die 80 Führungskräfte beteiligt. Über einen intensiven Change Prozess wurden die Mitarbeitenden auf das neue Konzept vorbereitet. Neben vielfältigen Dialogformaten auf Führungskräfte- und Mitarbeiterebene und einer intensiven Kommunikation war es besonders dem Einsatz der Nutzervertreter zu verdanken, dass die +activity based+ Arbeitsumgebung heute wirksam ist und den Kulturwandel gemäß den Prinzipien des Leadership 2020-Programms unterstützt. Elementar war zudem die konsistente Aufmerksamkeit des Vorstandes auf das Thema, eine klare Rahmensetzung sowie Einordnung in die Gesamtstrategie. Auch nach dem Einzug wurden die Mitarbeitenden nicht alleine gelassen – es wurde evaluiert, weiter verbessert und in den Teams thematisiert, was noch nicht funktioniert. Arbeitet man heute im +EHO+, bemerkt man, dass der Raum für Begegnung intensiv genutzt wird. Führungskräfte sind sichtbar und ansprechbar und die vielfältigen Projekte finden ihren Raum.
Mercedes Benz Operations hat diese neue Arbeitswelt inzwischen an vielen Standorten ausgerollt – immer mit dem Anspruch eines partizipativen Prozesses.