Aspekte von Ganzheitlichkeit
Ganzheitlichkeit hat bei Fritz Glasl in Theorie und Praxis eine besondere Breite und Tiefe. Sie reicht vom Menschenbild, über ein ganzheitliches systemtheoretisches Organisationsmodell bis zu einem umfassenden Entwicklungsverständnis.
Ganzheitliches Menschenbild. Fritz Glasl hat von 1967 bis 1985 am NPI – Institut für Organisationsentwicklung in Holland zahlreiche Konzepte und Modelle entwickelt, die er bei der Gründung von Trigon 1985 eingebracht hat. Die Arbeit am NPI fußt auf Rudolf Steiners Menschenbild, das den Menschen als dreigliedriges Wesen versteht, bestehend aus Körper, Seele und Geist. Mit seiner Körperlichkeit ist der Mensch Teil der Natur, der Physis. Das (höhere) Selbst bildet die übernatürliche geistige Existenz; sie ist die Grundlage für die individuelle Lebensgestaltung des Menschen. Die geistige Wesenheit des Menschen ist fähig zur Selbstreflexion, zum Selbstentwurf und zur Sinngebung. Im Spannungsfeld zwischen Körper und Geist bildet sich die individuelle seelische Existenz eines Menschen heraus – sein Wahrnehmen, sein Denken, Fühlen und Wollen.
Die Dreigliedrigkeit des Menschen findet eine Entsprechung in sozialen Systemen. Bei Organisationen sind dies das technisch-instrumentelle, das soziale und das kulturelle Subsystem. Auf der Ebene einer Gesellschaft findet sich die Dreigliedrigkeit im Wirtschafts-, Rechts- sowie dem Kultur- und Geistesleben.
Systemtheoretische Fundierung. Bernard Lievegoed, der Gründer des NPI, hat sich früh mit Systemtheorien beschäftigt. Fritz Glasl hat systemische Prinzipien aufgegriffen, weiterentwickelt und in seine Konzeption von Organisationsentwicklung integriert. Entsprechend der allgemeinen Systemtheorie sind Organisationen offene und dynamische Systeme; sie bestehen aus wesentlichen Elementen, die miteinander in Beziehung stehen, sich wechselseitig beeinflussen, insgesamt eine „Ganzheit“ darstellen und somit eine „Grenze“ bilden. Sie sind im kontinuierlichen Austausch mit der Umwelt und verändern sich laufend. Systemtheoretisches Denken verändert die Wahrnehmung radikal: Probleme sind nicht bloß Merkmale einer Person, sondern wesentlich Merkmale von Beziehungsstrukturen. Die Aufmerksamkeit richtet sich daher vermehrt auf die Wechselwirkungen zwischen den Teilen und die daraus entstehenden Muster. Weiters gilt: Die Eigenschaften des Ganzen sind nicht aus den Eigenschaften seiner Teile erklärbar. Bei lebenden Systemen führt das Erkennen von Mustern zum Verstehen von „Selbstorganisation“. Dabei taucht die Frage auf, wie die Wahrnehmung des „Ganzen“ am besten gelingen kann. Für Fritz Glasl steht fest: Es kann nur im Zusammenwirken von geistiger (Intuition) und sinnlicher Wahrnehmung erkannt werden.
Das Trigon – Systemkonzept. Welche Elemente eines Systems sind wesentlich? Das Trigon-Systemkonzept haben Fritz Glasl und Hans von Sassen in Auseinandersetzung mit der Systemtheorie und verschiedenen Organisationsmodellen entwickelt. Es besteht aus sieben konstituierenden Wesenselementen – im Innensystem und zum Umfeld. Die Bezeichnung „Wesenselemente“ weist darauf hin, dass es sich um Elemente eines umfassenderen Wesens handelt. Die Ganzheitlichkeit des Trigon-Systemkonzepts einer Organisation zeigt sich darin, dass es in der praktischen Anwendung als vollständig, ohne Lücken oder blinde Flecken erlebt wird..
Abb.: Trigon-Systemkonzept
Eine Besonderheit dieses Modells besteht darin, dass es eine Dreier-Ganzheit (das kulturelle, das soziale und das technisch-instrumentelle Subsystem) mit einer Siebener-Ganzheit (Identität, Strategie, Struktur, Menschen/Gruppen, Funktionen, Prozesse und physische Mittel) verbindet.
Systeme in Entwicklung. Bernard Lievegoed hat sich mit der Evolution sozialer Systeme auseinandergesetzt und Entwicklungsprozesse in Analogie zu Biosystemen beschrieben. Dies hat ihm den Vorwurf eines unwissenschaftlichen „Biologismus“ eingetragen. Seine umfassende Sicht wurde mittlerweile naturwissenschaftlich bestätigt. So zum Beispiel von Maturana und Varela, die bei lebenden Systemen die Fähigkeit der „Selbstschöpfung“ oder „Autopoiesis“ entdeckt hatten. Dieses Konzept wurde u.a. von Niklas Luhmann auf soziale Systeme übertragen. Demnach versteht das NPI Unternehmen als lebenden Organismus: Organisationen sind fähig zur Selbststeuerung, haben einen freien Willen, können Ziele bewusst wählen, aus Erfahrung lernen, Strukturen und Prozesse bewusst ändern etc. In diesem Entwicklungskonzept wird der Gestaltungs- und Verantwortungsfähigkeit des Menschen große Bedeutung eingeräumt; es gilt, die Spannung zwischen Individuum und sozialem System konstruktiv zu nutzen.
Lievegoeds Buch „Organisationen im Wandel“ erschien 1974 in deutscher Sprache. Er beschreibt darin die Entwicklung von Organisationen in drei Stadien: Pionierphase, Differenzierungsphase und Integrationsphase. Fritz Glasl hat beobachtet, dass sich einzelne Organisationen über die Integrationsphase hinaus entwickelt hatten und erweiterte das Phasenkonzept um eine vierte Phase, die „Assoziationsphase“.
Seit vielen Jahren dürfen wir in der Beratung erleben, wie sich diese Konzepte der Ganzheitlichkeit für unsere KundInnen als äußerst wertvoll erwiesen. Sie helfen ihnen, ihre Situation besser zu verstehen und Perspektiven für ihre weitere Entwicklung zu gewinnen.
Literaturangaben:
Glasl, F. & Lievegoed, B. (2021) Dynamische Unternehmensentwicklung. Bern
Glasl, F., Kalcher, T. & Piber, H. (2020) Professionelle Prozessberatung. Bern