Talent Management – neu gedacht
Was ist eigentlich ein Talent? Wer gilt als talentiert? Der gegenwärtige Talentbegriff orientiert sich immer noch an Anforderungen des 20. Jahrhunderts. Ein Vorschlag zur radikalen Neu-gestaltung des Talent Managements.
Das Talent Management in Unternehmen macht es sich zur Aufgabe, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit besonderen Potenzialen für strategisch wichtige Funktionen als Führungskraft oder Fachexperte zu identifizieren und zu fördern. Dies geschieht vor dem Hintergrund der organisatorischen Struktur des Unternehmens. Organisationen kombinieren Aufgabenfelder üblicherweise so miteinander, dass Funktionen entstehen. Diese werden dann mit Mitarbeitern besetzt. Auf diese Weise erhält jeder Mitarbeiter eine Stellenbezeichnung (z. B. Personalentwicklerin, Produktionsmitarbeiter) und nimmt einen bestimmten Rang in der Organisationshierarchie ein.
Funktionsbezogene Organisationshierarchien
Die Aufgabe der Personalentwicklung in dieser Form der Organisationsgestaltung ist es, den Prozess der Anpassung der Funktionsinhaber an die funktionsspezifischen Anforderungen zu unterstützen – durch Beschreibung der dafür nötigen Kompetenzen, durch Maßnahmen zur fachlichen Weiterbildung und durch Training der nötigen Kompetenzen. Diese Form von Organisationsgestaltung und Führung beruht auf den Anforderungen in Hinblick auf Arbeitsteilung und Spezialisierung, wie sie sich im 20. Jahrhundert herausgebildet und auch bewährt haben. Vor allem seit der letzten Jahrhundertwende spüren zahlreiche Unternehmen jedoch zunehmend die Grenzen dieses Systems: Die Anpassungsbereitschaft vieler MitarbeiterInnen nimmt ab.
Vor allem hoch qualifizierte Talente und PotenzialträgerInnen wollen schon nach kurzer Unternehmenszugehörigkeit ihre Aufgabenfelder selbst mitgestalten und fordern dies vehement ein. Ein zweiter Grund für die zunehmenden Schwierigkeiten, welche durch rein funktionsbezogene Organisationsstrukturen entstehen können, ist der zunehmende Innovationsdruck, dem sich die Unternehmen gegenübersehen. Der War for Talents zeigt, dass es bereits schwierig ist, sich mit den nötigen Talenten zu versorgen, um die gegenwärtigen Aufgaben in hervorragender Qualität zu erfüllen. Es wird immer schwieriger, die Talenteplanung für die künftigen Herausforderungen auch nur einigermaßen verlässlich gestalten zu können. Zu divers sind die möglichen Zukunftsszenarien und -horizonte, denen wir uns heute gegenübersehen, als dass wir unsere gegenwärtigen Funktionen mit hoher Verlässlichkeit zukunftstauglich definieren und bereits jetzt die Mitarbeitenden dafür identifizieren könnten. Eine Herausforderung für das Talent Management wird es künftig demnach sein, jene Fähigkeiten der MitarbeiterInnen zu kennen und zu fördern, welche in Zukunft potenziell interessant für das Unternehmen sein könnten – selbst wenn diese gegenwärtig noch nicht genutzt werden. Talent Management in einem solchen Fall bedeutet dann nicht mehr nur die Förderung talentierter Personen, sondern umfasst die Identifikation und Förderung der im gesamten Unternehmen vorhandenen Fähigkeiten.
Personalabteilungen haben gegenwärtig oft wenig Wissen über jene Kompetenzen von Mitarbeitern, die diese im Rahmen ihres gegenwärtigen Aufgabengebietes nicht nutzen können. Dadurch bleiben in großem Stil wertvolle Ressourcen ungenutzt. Nehmen wir an, ein mittelgroßes Unternehmen entschließt sich dazu, im Bereich Social Media zu kommunizieren, um auch jüngere Zielgruppen adäquat ansprechen zu können. Dazu will es auf Facebook und auf Twitter aktiv werden und die Accounts kontinuierlich betreuen. Bei der Frage, wer dies nun erledigen soll, stellt sich dem Unternehmen im traditionellen Denkmuster nun wahrscheinlich die Frage, welche Abteilung hiermit beauftragt werden soll. Letztlich wird die Aufgabe z. B. bei einem Mitarbeiter in der für Kommunikation zuständigen Abteilung landen, weil hier ähnliche Aufgaben erledigt werden, und zwar selbst dann, wenn er wenig Erfahrung mit Facebook und Twitter hat.
Vielleicht gibt es nun aber in der Personal- oder Rechtsabteilung eine erfahrene und begeisterte Facebookerin. Sie beherrscht nicht nur die leicht zu erlernende Technik, sondern verfügt auch über den für die Community passenden Sprachcode. Im Falle einer funktionsorientierten Arbeitsorganisation ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dieses Talent ungenutzt bleibt. Verantwortlich dafür ist die wenig flexible Organisationsstruktur mit ihren vorbestimmten Stellenbezeichnungen und -beschreibungen. Einen Ausweg bietet die Forcierung von Rollenorientierung anstelle von Funktionsorientierung in Unternehmen – ein Weg, den eine zwar noch geringe, aber rasch wachsende Zahl von Organisationen mittlerweile geht. Die Aufgaben ihrer Mitarbeiter ergeben sich nicht aus fixen Stellenbeschreibungen. Sie entstehen eher aus einer Anzahl von Rollen, welche sich die Mitarbeiter selbst auf Basis ihrer Talente und Interessen wählen.
In einer solchen Organisation würde man also nach einem Mitarbeiter suchen, welcher die Qualifikation und das Interesse hat, die Facebook-Seite zu betreuen, egal in welcher Abteilung er oder sie grundsätzlich arbeitet. Ähnlich wie ein Schauspieler in einem Theater Rollen in mehreren Stücken übernehmen kann, so hätte diese Person dann vielleicht ihre Hauptrolle in der Rechtsabteilung und würde in einer Nebenrolle die Facebook-Seite betreuen. Durch Rollenorientierung verringert sich der Anpassungsdruck. Der persönliche Gestaltungsspielraum und damit die Motivation erhöhen sich. Selbstverständliche Voraussetzung ist, dass die zu besetzenden Rollen jedenfalls am Bedarf des Unternehmens orientiert sein müssen. Talenteförderung in einem derart organisierten Unternehmen bezieht sich nicht auf einzelne Personen mit einem fest definierten Set an Aufgabenfeldern. Stattdessen werden vielfältige Person-Rollen- Kombinationen gefördert, die für die zukünftige Entwicklung des Unternehmens relevant sind. Verglichen mit der Zahl der Funktionen ist die Zahl an solchen möglichen Rollen natürlich ungleich größer.
Es ist relativ einfach, mit Hilfe eines Organigramms den Überblick über die im Unternehmen vorhandenen Funktionen zu erhalten. Rollenvielfalt ist ungleich schwieriger zu überblicken. Unübersichtlichkeit kann bei Führungskräften auch zu Unsicherheit und Angst führen. Diese Herausforderung gilt es zu lösen. Ein Ansatz dafür findet sich im Customer Relationship Management. Um kundenorientiert arbeiten zu können, haben Unternehmen ausgereifte Lösungen für Kunden implementiert. Unternehmen generieren dabei hoch individualisiertes Wissen über die Interessen und Bedürfnisse ihrer Kunden. Um mitarbeiter- und talenteorientiert arbeiten zu können, wird es analog dazu ein Employee Relationship Management brauchen. Wenn die Personalabteilung wenig Erfahrung damit hat, könnte diese Tätigkeit eine schöne Nebenrolle für einen Customer Relationship Manager bieten.
Rollenorientierung als Alternative zu hierarchischen Funktionsorientierung
Literatur
Wolfgang Grilz und Martina Scheinecker (2016). „Innovation durch Human Resource
Management“. In: Mario Weiss, Hrsg., Handlungskompetenz Innovation. Bern