Der Charme des syntaktischeren Arbeitens
Andrea Spieth im Gespräch mit Matthias Varga von Kibéd
Die Idee des syntaktischen Arbeitens fokussiert auf die Grammatik, die Struktur eines Sachverhalts in Abgrenzung zum semantischen Arbeiten, bei dem in erster Linie auf die Inhalte fokussiert wird.
Matthias Varga von Kibéd ist Logiker und Wissenschaftstheoretiker und hat 1994 mit seiner Ehefrau Insa Sparrer das SySt®-Institut für systemische Ausbildung, Fortbildung und Forschung in München gegründet. Die Idee des syntaktischen Arbeitens haben die beiden im Rahmen ihrer Arbeit mit Systemischen Strukturaufstellungen entwickelt. Wir konnten Matthias Varga von Kibéd im Rahmen der Trigon OE-Werkstatt dazu befragen.
Trigon Themen: Lieber Matthias, was verstehst du unter syntaktisch beziehungsweise unter syntaktischem Arbeiten?
Matthias Varga von Kibéd: Ich verwende syntaktisch als Betrachtung von Sprache unter Absehung von Bedeutung. Manchmal kann es sehr hilfreich sein, wenn man nicht überall erst die schwer aufklärbaren Bedeutungen nachvollziehen und die verschiedenen Verständnisse von Nuancen aufklären muss. Und es ist manchmal sehr wichtig, dass man von eigenen Vorurteilstendenzen absehen kann, um etwas gut zu beobachten. Und eine Form, wie man diesen Zustand der Vorurteilsfreiheit üben kann, ist eben, dass man die Inhalte entweder gar nicht kennt – dadurch kann man die Vorurteile nicht bilden, oder dass man diesen Zustand des Nichtwissens intern simuliert. Und dafür gibt es gute grammatische Mittel und darum ist eine solche syntaktischere Vorgehensweise erlernbar.
TT: Der Duden sieht für das Adjektiv „syntaktisch“ keinen Komparativ vor. Dennoch verwendet ihr das Wort „syntaktischer“. Wie kommt das?
MVvK: Den Übergang vom Semantischen, also von der Ebene der Bedeutung, zum Syntaktischen, also zur Ebene des Formalen und der Grammatik, das nannten wir Syntaktisierung. Und wenn diese Syntaktisierung ein Prozess ist, der Stufen hat, dann braucht man sozusagen unterschiedliche Grade, in denen das Syntaktische bereits erreicht ist. Dafür verwenden wir den Begriff „syntaktischer“ – zur Verdeutlichung der Fortschritte in der Syntaktisierung. Der Komparativ macht aus meiner Sicht Sinn, wenn man die Idee des Prozesses des allmählichen Übergangs von etwas mit Bedeutung Gegebenem in eine pure Form, in eine Choreografie, in eine Struktur, betrachtet.
TT: Kannst du ein Beispiel geben, das die Idee des Syntaktischen nachvollziehbar macht?
MVvK: Wenn zum Beispiel in der Gewaltfreien Kommunikation zwischen Beobachtung, Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen unterschieden wird, dann kann ich das tun, ohne den Wortgebrauch des anderen bis ins Detail erkundet zu haben. Die Trennung zwischen diesen vier Aspekten sehe ich als relativ nah an etwas Syntaktischem an. Sie gehören zum menschlichen Denken, Erleben und Handeln dazu und dürften etwas sein, wo man nicht so leicht irgendeine Kultur finden wird können, in der diese vier Aspekte nicht eine zentrale Rolle spielen.
TT: Gibt es weitere Formate oder Vorgehensweisen, die du für syntaktischeres Arbeiten empfehlen würdest?
MVvK: Problemdekonstruktion, Tetralemma, Wertequadrat – all diese Formate sind Formen eines syntaktischeren Arbeitens, weil du zum Beispiel mit Alternativen arbeiten kannst obwohl die Klienten nur ganz wenig oder gar nichts über die Alternativen gesagt haben. Weil du mit Wertausrichtungen arbeiten kannst, obwohl du dir keineswegs sicher sein kannst, dass alle Beteiligten unter einem Wort wie Erkenntnis oder Vertrauen das gleiche verstehen.
TT: Angenommen, ich würde Insa Sparrer die gleiche Frage stellen – wie würde sie vermutlich antworten?
MVvK: Ich bin ziemlich sicher, dass sie darauf hinweisen würde, was an einem lösungsfokussierten Vorgehen syntaktischer ist. Und einer der ersten Punkte wäre sicher der nicht inhaltliche Lösungsbegriff. Also Lösung als Verschwinden des Problems zu charakterisieren, ist etwas, bei dem ich das Problem nicht in allen Details verstanden haben muss, sondern nur verstehen muss, woran aus der Sicht eines Klienten oder eines Klientensystems bemerkt würde, dass das Problem verschwunden ist. Dann kann man fragen, was stattdessen da wäre, und um zu verstehen, was stattdessen da wäre, muss ich nicht unbedingt die Details gewusst haben von dem, was vorher da war. Bei den Fragen, die wir dabei verwenden, geht es nicht um das Informationsbedürfnis des Fragenden, sondern es geht darum, dass beim Befragten Unterschiede entstehen.
Dann denke ich, dass sie den syntaktischen Charakter der Wunderfrage betonen würde. Ich würde das so sagen: Das einzige, worüber man in der Wunderfrage nie spricht, ist das Wunder. Man spricht nicht über das Wunder, man fragt nur, was nach dem Wunder anders wäre. Das Wunder ist ein Prinzip, aber nicht ein Inhalt, vergleichbar mit dem Verschwinden eines Problems. Wenn die Probleme Gebäude wären, wäre das Verschwinden eines Problems der Abbruch oder der Abriss des Gebäudes, aber man kann nicht fragen, woraus der Abbruch besteht. Und dieses, dass man streng genommen nicht fragen kann, was die Bausteine des Abbruchs sind, das ist so ein syntaktischeres Vorgehen. Die Frage „Was sind die Bausteine, woraus besteht das Problem?“, das ist sehr nah an einer semantischen Frage. Man kann schon noch sagen, gut, es gibt Hindernisse und es gibt Zeitabläufe und es gibt Beteiligte, das ist noch syntaktisch, aber so wie man fragt „Was genau ist das Hindernis und bei was genau tritt es auf?“, stellt man eine semantische Frage.
TT: Welchen Nutzen in der Beratung siehst du?
MVvK: Wenn wir in Coaching oder Beratung mit Klienten arbeiten, dann ist es ja manchmal so, dass sie bestimmte Dinge nicht nur nicht verwirklicht haben, sondern dass in ihrer Vorstellung vom Bereich der Möglichkeiten nicht einmal vorgesehen ist, dass so etwas wie eine Lösung für sie denkbar sein könnte. Und dann kann eine Beratung unter Umständen bewirken, dass das Vorgestellte danach zwar immer noch nicht verwirklicht ist, dass es aber von da ab denkbar ist, dass von da ab die Frage gestellt werden kann, dass von da ab überhaupt nach Ressourcen Ausschau gehalten werden kann. Und das meinen wir damit, dass man bei einer Beratung nicht nur durch eine inhaltliche Vision – die kann sowas auch mal bewirken – sondern auf eine syntaktische Weise ausgeschlossene Bereiche von Möglichkeiten entdecken kann. Für mich wäre das eine moderne Form des sokratischen Dialogs, in dem wir durch Fragen dem anderen ein inneres, implizites Wissen bewusstmachen.
TT: Vielen Dank für das Gespräch.
Lesen Sie mehr zum Thema Syntaktisch in Beratung und Führung in unserer Gesamtausgabe Trigon Themen 03|2019