Entscheidungsfindung und Konfliktlösung jenseits heiliger Ordnungen
In agilen Umgebungen sind Entscheidungsprinzipien, die auf stabilen Ordnungen beruhen, nicht mehr hinreichend. Ein Vorschlag zur Klassifizierung von Problemen nach deren Komplexitätsgrad und dazu passenden Entscheidungsmechanismen.
Entscheidungen in großen Gruppen sind nicht leicht zu treffen. Unterschiedliche Sichtweisen, Meinungen und Interessen stehen ihnen oft entgegen, verzögern sie oder führen zu langwierigen Konflikten. Um dennoch handlungsfähig zu bleiben haben Gesellschaften Ordnungen entwickelt, die bei der Lösung von Entscheidungskonflikten helfen sollen.
Eine Form dieser Ordnungen sind Hierarchien (Hierarchie = altgriechisch für „heilige Ordnung“). Der Begriff zeigt, dass es sich dabei um sehr stabile oder auch starre Entscheidungsstrukturen handelt. Die Position in der Hierarchie – und nicht etwa Sachlogik oder Expertise – legt in letzter Konsequenz fest, wer eine Entscheidung trifft.
Entgegen der traditionellen Vorstellung, dass dadurch Entscheidungskonflikte rasch und effizient gelöst werden können, sehen wir in Unternehmen zunehmend, dass Hierarchien die Entscheidungsprozesse bei weitem nicht immer beschleunigen, sondern oft verlangsamen. Hierarchien stabilisieren Systeme. Was stabil ist, ist aber per definitionem nicht leicht beweglich oder agil. Es lässt sich daher nur mühsam verändern.
Wir leben in einer Welt, die heute oft mit dem Akronym VUKA bezeichnet wird: volatil, unsicher, komplex, ambig. In dieser Welt treten unvorhersehbare Umstände (wie z.B. die Covid-19-Krise) häufiger auf und können unsere akribisch erstellten (Geschäfts-)Pläne blitzschnell umwerfen. Wenn wir Entscheidungen treffen, sind die Sachverhalte oft so komplex, dass wir die Folgen unserer Entscheidungen unmöglich genau prognostizieren können.
Klassische Prinzipien stabiler Ordnungen wie z.B. klare Entscheidungslinien, konkrete Zielformulierungen oder präzise Planung sind in der VUKA-Welt nicht überflüssig geworden. Sie sind aber nicht mehr hinreichend, um die Komplexität zu bewältigen und die dafür nötige Dynamik zu schaffen. Wenn Organisationen agil sein wollen, benötigen sie zusätzliche Formen der Entscheidungsfindung.
Wie kann das in der Praxis aussehen?
Ein erster Schritt kann es sein, ein Problem einer von drei Komplexitätszonen zuzuordnen: der organisierten Zone, der selbstorganisierten Zone oder der unorganisierten Zone (also dem Chaos). Zu diesem Zweck bietet sich ein Modell[i] an, das sich an zwei Faktoren orientiert:
- am Grad der Gewissheit: wie sicher können wir bestimmte Konsequenzen einer Maßnahme vorhersehen
- am Grad der Übereinstimmung im Unternehmen: wie ähnlich oder unterschiedlich sind die Meinungen und Sichtweisen auf ein bestimmtes Thema oder wie konfliktträchtig ist dieses.
Selbstorganisation ist ein wichtiges Prinzip für die Bewältigung komplexer Aufgabenstellungen.
- Ein Problem wird der organisierten Zone zugeordnet
Kein Unternehmen kann Chaos bei der Schichtübergabe oder der Lohnverrechnung brauchen. Für Probleme, die dieser Zone zugeordnet sind, eignen sich klare Spielregeln, eindeutige Entscheidungswege und definierte Mechanismen der Konfliktregelung, wie sie auch in hierarchisch geprägten Systemen zu finden sind. Sie geben die nötige Orientierung für den funktionierenden Ablauf von Routineprozessen.
- Ein Problem fällt in die selbstorganisierte Zone
Geht es dagegen nicht um Routineprozesse, sondern steht die Weiterentwicklung von Organisationen im Mittelpunkt (z.B. Verbesserung von Produktionsabläufen, Optimierung von Schnittstellen, Veränderung der Unternehmenskultur), dann ist der Grad der Mitwirkung an Entscheidungen der bestimmende Qualitätsfaktor von Entscheidungen.
Entscheidungen und Konfliktregelungen in dieser Zone werden am besten nicht von einer Person für andere Personen getroffen, sondern den beteiligten und ausführenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weitgehend selbst überlassen. Selbstorganisation ist ein wichtiges Prinzip für die Bewältigung komplexer Aufgabenstellungen. Dies schließt Unterstützung nicht aus. Und selbstverständlich geht damit einher, dass diese Delegation der Entscheidungsbefugnis auch zu entsprechenden Verantwortlichkeiten führt und dass es intensive Feedback-Prozesse über die Wirkung von Entscheidungen braucht.
- Die Zuordnung des Problems in die unorganisierte Zone
Stabile Verhältnisse sind nicht in jeder Situation vorteilhaft. Unternehmen übersehen in solchen Verhältnissen allzu leicht die Veränderungen, die sich an den Märkten abspielen. Der Mangel an Dynamik und Spannung führt zu einem Mangel an Innovationskraft. Die Beispiele von hervorragend organisierten und erfolgreichen Unternehmen, deren Geschäftsmodelle plötzlich auf unsicherem Grunde stehen, sind gegenwärtig zahlreich.
Auch die unorganisierte Zone kann in einem System also durchaus eine wichtige Funktion haben. Wenn die gegenwärtige Pandemie beispielsweise uns in das wirtschaftliche Chaos eines kollektiven Lock-downs brachte, so zeigt diese Krise doch auch grundlegende Systemmängel, denen wir uns bislang nicht ausreichend gewidmet haben. Dasselbe passiert immer wieder in Unternehmen, die mit radikalen Innovationen von neuen Mitbewerbern konfrontiert sind.
Natürlich wird man Chaos überall dort rasch ordnen, wo es geordnet werden kann. In dieser Zone adäquat zu handeln bedeutet aber auch, dass Unsicherheit ausgehalten wird. Konflikte werden nicht einfach gelöst, sondern unter Berücksichtigung ihres konstruktiven Spannungspotenzials bearbeitet. Das kann auch heißen, dass die Konfliktpotenziale aufrechterhalten werden und lediglich daran gearbeitet wird, die Konflikte nicht ins Persönliche eskalieren zu lassen.
Damit das möglich wird, muss eine Unternehmenskultur entwickelt werden, die durch tiefgehende Dialogfähigkeit geprägt ist.
Anmerkungen:
[1] In Anlehnung an Stacey (1996) und Eyang (2013).
Literatur:
Eyang, Glenda H. und Royce J. Holladay (2013), Adaptive Action. Uncertainty in Your Organization. Stanford.
Stacey, Ralph D. (1996), Complexity and Creativity in Organizations. San Francisco.