Trigon Themen 03|2021

Emergenz: Das Entstehende sehen und nutzen

Emergenz in der Beratung

Emergente Beratungsprozesse überraschen in jeder Phase mit Einsichten und Lösungen, die nicht vorhersehbar waren. Dafür braucht es neue Formen der Beauftragung sowie besondere Fähigkeiten der Beraterinnen und Berater.

Der Begriff Emergenz bezeichnet in einem System das Auftauchen von Ereignissen. Beispiele sind das Verhalten von Schwärmen und Netzwerken, Verkehrstaus etwa, oder gesellschaftliche Ereignisse wie der Mauerfall und die Lautverschiebungen in einer Sprache.
Emergente Phänomene sind nicht bewusst geplant und gesteuert. Sie ergeben sich zwar aus dem Zusammenspiel der Elemente, sind aber nicht auf einzelne Verursacher rückführbar. In sozialen Systemen gibt es immer Denk- und Handlungsweisen, die nicht bewusst eingebracht wurden, sondern emergieren. Doch das Thema ist nicht ganz neu.

Henry Mintzberg hinterfragte schon 1978 rational geplante Strategieprozesse und stellte diesen emergente Strategien gegenüber, die plötzlich auftauchen und dennoch realisiert werden. (1)

Und schon 1903 hatte Emile Durkheim die Emergenz gar zum zentralen Thema der Sozialwissenschaften erklärt. Durkheim stellte fest, dass Normen, Werte und Ziele in Gesellschaften oft nicht durch Veranlassung einzelner Akteure zustande kommen, sondern aus dem Zusammenspiel emergieren. (2) Emergenz ist also einerseits eine Selbstverständlichkeit, mit der alle unsere Lern- und Entwicklungsbestrebungen in Organisationen durchsetzt sind. In jedem Beratungsgespräch emergieren z.B. neue Einsichten und Willensimpulse, die nicht vorhersehbar sind. Für längere Entwicklungsprozesse hingegen ist Emergenz noch eine Herausforderung. In jeder Phase können neue Einsichten auftauchen, nicht nur in der Diagnosephase. Und neue Ziele und Handlungsmöglichkeiten emergieren ebenfalls jederzeit, nicht nur in Zukunftsgestaltungsprozessen. Diese schwer planbaren aber relevanten Ereignisse verlangen dann eine flexible Umgestaltung des Gesamtprozesses. Soll der Entwicklungsprozess kreativ und wirklichkeitsorientiert sein, muss er bildsam bleiben.

Ein Beispiel: In einem global tätigen Interessensverband wurde ein Jahr lang über die Neuausrichtung der Öffentlichkeitsarbeit nachgedacht. Experten wurden eingeladen, die Attraktivität der Wort-Bild-Marke wurde überprüft, drei Szenarien standen letztlich zur Wahl. Bei der Letztentscheidung sollten die unterschiedlichen Positionen und die aufkommenden sozialen Spannungen in einem gemeinsamen Commitment zusammengeführt werden. Während dieses letzten Entscheidungsprozesses emergierte die alles verändernde Einsicht, dass die sinkende Markenattraktivität, aber auch die  unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen ihre tiefere Ursache darin hatten, dass in der Organisation eine allgemeine Unzufriedenheit mit den Leistungsprozessen bestand, was bei der Erstdiagnose nicht ins Bewusstsein gekommen war. Die Leistungsprozesse waren zu wenig auf den Zweck (Purpose) des Verbandes ausgerichtet. Also wurde das Thema dieser letzten Phase geändert und die künftigen Leistungsprozesse konnten schnell und klar skizziert werden. Die Folge war nur, dass nun die Öffentlichkeitsarbeit nicht mehr zentral war. Der Entwicklungsprozess verlagerte sich nach einem Jahr weg vom Marketing hin zu den Leistungsprozessen. Besonders in unserer Zeit, in der Dynamik und Komplexität, aber auch Fragilität und  Disruption eine so große Rolle spielen, könnten Entwicklungsprozesse konsequenter auf Emergenz ausgerichtet werden. Eine Hürde dafür ist die berechtigte Erwartung der Kunden, dass Entwicklungsprozesse vorhersehbar und kalkulierbar sind. Doch emergente Prozesse können sich sowohl unversehens verkürzen als auch verlängern, wenn sie auf weitere Bereiche und Themen ausgedehnt oder verlagert werden. Emergente Beratung verlangt deshalb bildsame Anbahnungs- und Designprozesse, die freilassend gemeinsam mit den Kunden gestaltet werden. Folgende drei Merkmale solcher Anbahnungs- und Designprozesse können zunehmend beobachtet werden: Erstens werden mehr die Intentionen, Bedürfnisse und Potenziale der Kunden fokussiert als fixe Zielvorstellungen, damit auch das Überraschende Platz haben kann. Zweitens sind generative, Ergebnis- offene  Gruppendialoge eine zentrale Methode des Entwicklungsprozesses. In solchen Dialogen können Einsichten und Willensimpulse emergieren, die weder
für den Auftraggeber noch für Beraterinnen und Berater vorhersehbar waren. Und drittens muss den Kunden ehrlich gesagt werden, dass eine laufende flexible Umplanung des Prozesses die geeignetste Form der gemeinsamen Steuerung ist. Zu den Fähigkeiten der Beraterinnen und Berater zählt erstens, dass sie Vertrauensbeziehungen zu Kunden aufbauen können, die über das übliche Maß hinausgehen und an die Stelle des sicheren Halts durch einen vorgefassten Plan treten. Zweitens, die Fähigkeit emergente Dialogatmosphären zu schaffen, in denen sich die betroffenen Menschen schnell öffnen und ehrlich aussprechen.

Weiters gehört daran erinnert, dass die beratende Person jene ist, die am schnellsten und am meisten lernen muss und mit dem eigenem Nichtwissen konstruktiv umgehen können muss. Jegliches Überspielen von ohnehin unvermeidlicher Unsicherheit, jegliches Vorspiegeln von angelerntem Scheinwissen untergräbt die notwendige Ehrlichkeit und das notwendige Vertrauen. Und viertens braucht die beratende Person die Fähigkeit, sich gemeinsam mit den Kunden bei der Prozesssteuerung überraschen zu lassen, ins Offene zu treten und wiederholt umzuplanen. Dafür braucht es einerseits Selbstvertrauen und Erfahrung, andererseits dürfen Beratende nicht Gefangene der eigenen Konventionen werden.

 

1 Mintzberg, H.: Patterns in Strategy Formation, Mai 1978; Management Science, Vol 24, No. 9, S. 934-948. Zit nach www.wirtschaftslexikon24.com „Emergente Strategien“.
2 Durkheim, E.: Erziehung, Moral und Gesellschaft (1903), stw 487 1984, Seite 94 ff.